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Twitter und Musk: Die Folgen für die politische Kommunikation

von David Denne

Im Oktober 2022 kaufte US-Milliardär Elon Musk Twitter – für schlappe 44 Milliarden Dollar. Die Begründung: Er wolle die Rede- und Meinungsfreiheit schützen. „Die Meinungsfreiheit ist das Fundament einer funktionierenden Demokratie und Twitter ist der digitale Marktplatz, wo wichtige Angelegenheiten zur Zukunft der Menschheit debattiert werden“, sagte Musk etwa ein halbes Jahr vor dem Kauf der Plattform. Um „Redefreiheit by Musk“ durchzusetzen, ließ er keine Zeit verstreichen. Innerhalb der ersten sechs Monate schrumpfte beispielsweise die Twitter-Belegschaft um etwa 80 Prozent. Der Rausschmiss von vielen Security-, Desinformations- und Wahlteams habe etwas verändert, sagt Martin Fuchs. Er ist Politikberater, Experte für digitale Kommunikation und schreibt auf seinem Blog über Social Media in der Politik. „Das waren Nackenschläge, wo man gesehen hat: Da hat jemand eine Axt in der Hand und setzt sie jetzt an.“

"Mit der Namensänderung zu X war dann klar: Das ist nicht mehr unser Twitter."

Martin Fuchs

Dass die Redefreiheit auf dem neuen Twitter bzw. X nicht so weit ging, wie von Musk propagiert, legte der Student Jack Sweeney von der University of Central Florida im Dezember 2022 offen. Sweeney hatte einen Algorithmus programmiert, der den Privatjet von Musk trackte und die Daten auf Twitter teilte. Zunächst kündigte Musk an, Sweeneys Account, aufgrund der Redefreiheit, nicht sperren zu wollen. „Aber einige Wochen später änderte er seine Meinung quasi über Nacht und sperrte den Account von Sweeney sowie die Accounts von Journalist*innen, die darüber berichteten“, erinnert sich Gavin Karlmeier, einer der Moderatoren des Podcasts „Haken dran – Das Twitter-Update“. In seinem Podcast ordnet Karlmeier nahezu täglich die Nachrichten rund um Twitter bzw. X ein. Dabei drängt sich die Frage auf: Von welcher Redefreiheit geht Elon Musk eigentlich aus? „Die Redefreiheit von Elon Musk ist die Redefreiheit der politisch Rechten“, sagt Karlmeier. Damit sei die Freiheit gemeint, sich über andere Menschen äußern und Desinformationen verbreiten zu dürfen. Aber wie genau hat dieses Verständnis von Redefreiheit Twitter bzw. X verändert?

Wo Redefreiheit aufhört und Hatespeech anfängt

Im November 2022 beschrieb Elon Musk die neuen Twitter-Richtlinien mit den Worten: „Freedom of speech, but not freedom of reach“ (Redefreiheit, aber keine Freiheit der Reichweite). „Das heißt: Es ist jetzt nicht mehr die Strategie, Hassrede von der Plattform zu löschen“, erklärt Karlmeier. Stattdessen werde sie nur nicht mehr durch den Algorithmus verstärkt. „Das führt dazu, dass der Hass massiv zunehmen wird, weil er ungeahndet bleibt“, so Karlmeier weiter. „Das halte ich für fatal und ist ein Widerspruch bei einem ‚Safe Space‘ für die Meinungsfreiheit. Wenn die Inhalte auf einer Plattform nicht mehr moderiert werden, tauchen schnell illegale Inhalte auf. Es hat keinen Monat gedauert, da war der erste Kinofilm in voller Länge auf der Plattform“, sagt Karlmeier, „und wenn es ein Kinofilm ist, können es auch ganz andere Dinge sein.“

Karlmeier sieht die Motivation hinter dem Ansatz von Musk vor allem durch die innenpolitische Situation in den USA begründet: „Elon Musk hat ein großes Interesse daran, der politisch Rechten in den USA auf X ein Zuhause zu geben.“ So versuche er rechten Splitter-Netzwerken wie Gab oder Truth Social den Rang abzulaufen. Anzeichen dafür sind zum Beispiel die Entsperrung der Konten von dem antisemitischen Rapper Kanye West oder vom inzwischen in 91 Punkten angeklagten Ex-US-Präsidenten Donald Trump – der seine „Truths“ allerdings lieber auf seiner eigenen Plattform Truth Social rausposaunt. Auch die exklusive Sendung „Tucker on X“ von Tucker Carlson, einer wichtigen Stimme in den rechtsextremen Kreisen der USA deutet darauf hin, dass Musk vor allem den rechten Diskurs in den USA mitbestimmen will. Musk hat dem Ex-Fox-News-Moderator die Plattform zur Verfügung gestellt, nachdem Carlson bei Fox News entlassen wurde.

„Twitter war nie wirklich eine Diskussionsplattform, aber aktuell ist sie einfach tot.“

Martin Fuchs

Der neue Kurs verändert aber auch bei uns, wie wir auf Twitter bzw. X miteinander umgehen. „Es gibt eine klare Polarisierung, die Fähigkeit des Zuhörens geht verloren und es gibt einen Willen, Diskurs zu zerstören“, schildert Martin Fuchs seine Eindrücke seit der Musk-Übernahme. Troll-Accounts erkauften sich über „X Premium“ (ehemals „Twitter Blue“) für acht Dollar im Monat eine Verifizierung. Diese Verifizierung macht User*innen auf der Plattform sichtbarer als andere. Das führe letztlich alles dazu, dass sich Menschen von der Plattform zurückziehen und marginalisierte Gruppen im Diskurs nicht mehr wahrgenommen werden, so Fuchs. In einer Umfrage in den USA sagten im Mai 2023 beispielsweise 60 Prozent der im vergangenen Jahr aktiven Twitter-User*innen, dass sie eine Pause von der Plattform genommen hätten. 25 Prozent dieser User*innen gingen davon aus, dass sie Twitter in einem Jahr gar nicht mehr nutzen würden. Und der Traffic auf die Plattform ist innerhalb des letzten Jahres in den USA um 19 Prozent eingebrochen, in Deutschland waren es 17,9 Prozent. „Twitter war nie wirklich die große Diskussionsplattform, aber aktuell ist sie einfach tot“, so Fuchs weiter. Politisch ist X aber immer noch relevant, sagt der Politikberater. „Für Breaking-News-Situationen und politisches Agenda-Setting ist X aktuell noch die Nummer Eins in Deutschland.“ Das ist auch einer der Gründe, warum noch nicht mehr Politiker*innen von X abgewandert sind. In der aktuellen Legislaturperiode haben 83 Prozent der Mitglieder des Deutschen Bundestages (MdB) einen Twitter-Account. Die Zahlen von Politiker*innen, die ihren Account gelöscht haben, sei marginal. „Es gab Menschen, die weniger aktiv waren als vorher. Aber der Rückgang der Aktivität kann auch andere Gründe gehabt haben als die Übernahme von Musk“, so Fuchs.

„Medienschaffende und Politiker*innen sind die Megafone und Anreize für User*innen, X passiv zu nutzen.“ 

Gavin Karlmeier

Ähnlich wie in der Politik lief es auch in der deutschen Medienlandschaft ab. Die meisten Redaktionen und Medienhäuser haben ihren X-Account vorerst nicht gelöscht. „Wir haben in den letzten Monaten eine Schockstarre erlebt und machen so weiter, als wäre nichts gewesen“, sagt Karlmeier. Es sei zwar alles schlimm, aber der Account sei ja nun mal da und habe eine gewisse Reichweite. Dieses Denken ist verwerflich, findet Karlmeier: „Die Medienschaffenden und Politiker*innen sind die Megafone und setzen Anreize für die User*innen, X passiv zu nutzen.“ Viele Redaktion hätten nach der Musk-Übernahme rote Linien definiert, bei deren Überschreitung sie sich von X zurückziehen wollten. „Die roten Linien waren alle innerhalb von ein paar Monaten überschritten“, so Karlmeier. Geblieben sind die meisten trotzdem.

Macht es Sinn bei X zu bleiben?

Bleiben oder gehen – was ist besser? Aktuell sind immer noch viele Menschen auf X als Mitleser*innen aktiv. Ohne Gegenrede könnte rechte Hetze und Desinformation noch besser zu diesen Menschen durchdringen. Gavin Karlmeier spricht sich dennoch für den X-Abschied aus: „Auf X ein publizistisches Gegengewicht darzustellen, ist eine Illusion.“ Wenn man sich die Kommentare unter den Beiträgen deutscher Leitmedien auf X anschaue, seien diese durch Hass und Hetze dominiert. Als Medienmarke dort zu veröffentlichen, sei ein Mehraufwand, dem niemand gerecht werde. „Die Frage ist nicht: ‚Was machen wir stattdessen?‘, sondern die Entscheidung muss lauten: ‚Wir müssen hier weg!‘“, so Karlmeier. Dass X in seiner aktuellen Form wirklich keinen Mehrwert für die Kommunikation mit sich bringt, deutet auch der Fall des National Public Radio (NPR) an. NPR ist das nicht-kommerzielle, staatlich eingeführte Rundfunk-Syndikat in den USA und wurde im April 2022 als „staatsnahes Medium“ von Twitter eingestuft. So wären ab da an alle NPR-Beiträge mit dem Label „staatlich finanziert“ gekennzeichnet gewesen – und hätten damit Zweifel an der Unabhängigkeit der Journalist*innen geschürt. NPR verabschiedete sich deshalb von der Plattform. Der Traffic auf die NPR-Website sank trotz Twitter-Abschied nur um ein Prozent.

Wie es mit X weitergeht, liegt also vor allem in der Hand von Politiker*innen und Medienschaffenden. Von denjenigen, die sehr viele Menschen gleichzeitig erreichen. „Wenn relevante Stimmen von der Plattform verschwinden, wird auch die Relevanz für das politische Agenda-Setting abnehmen“, erklärt Martin Fuchs. Dann sei es auch für Verbände, NGOs und andere Institutionen und Organisationen nicht mehr attraktiv, auf X zu bleiben. Es bleibt abzuwarten, ob oder wann der erste Dominostein fällt. Oder ist er vielleicht schon gefallen?

Welche X-Alternativen gibt es?

Der Wettbewerb im Microblogging-Markt ist gestartet. Der Hype um Mastodon in den ersten Wochen nach der Musk-Übernahme ist mittlerweile wieder abgeflaut. Dafür ist aktuell Bluesky in aller Munde. Bluesky basiert, wie Mastodon, auf einem dezentralisierten Social-Network-Protokoll und ist 2021 aus Twitter hervorgegangen. „Ich kenne keine Plattform, die so schnell mit politischen Spitzenköpfen geflutet wurde wie Bluesky“, sagt Fuchs. Das ist beeindruckend, da man sich dort aktuell nur mit einem begehrten Einladungs-Code einen Account einrichten kann. Aber auch Mastodon hat weiterhin eine Daseinsberechtigung. „Wir haben bei Mastodon eine sehr stark wissenschaftliche und akademische Bubble. Auf Bluesky haben wir gerade eine starke journalistisch-mediale Bubble“, sagt Gavin Karlmeier. „Wenn Threads, der Microblogging-Dienst des Meta-Konzerns, bald nach Europa kommen sollte, gibt es eine zusätzliche Alternative. Die könnte vor allem für den Mainstream interessant werden“, sagt Karlmeier. Denn Threads ist an Instagram angeschlossen – man muss also keinen neuen Account anlegen. „Wenn Threads da ist, könnte das der einfachste Exit-Point, die einfachste Alternative für Twitter-User*innen werden“, so Karlmeier.

Was wird aus X? „Gerade in News-Situationen wird X vermutlich noch vorne bleiben“, sagt Martin Fuchs. Die Frage ist allerdings, ob das die Zukunft ist, die Musk vor Augen hat. „Der Traum des jungen Elon Musk war eine App, mit der man alles machen kann“, erklärt Karlmeier. Mit dieser sogenannten Everything-App könne man beispielsweise Termine in der Arztpraxis buchen, den Tisch im Restaurant reservieren oder Bankgeschäfte erledigen. Mit WeChat gebe es in China schon ein Beispiel für eine solche Everything-App. „Das Problem ist: Die Welt hat sich in den letzten 20, 30 Jahren weitergedreht. Die Illusion des jungen Elon Musk überlebt heute keinen Reality Check“, sagt Karlmeier. 

Die Folgen der Fragmentierung

Egal ob X, Bluesky, Mastodon oder Threads: Aktuell ist vieles noch Konjunktiv. „Ich habe das Gefühl, dass es in Zukunft nicht mehr den einen großen, sondern viele kleine Microblogging-Plattformen geben wird“, sagt Karlmeier. Da geht auch Martin Fuchs mit: „Die Herausforderung wird sein, dass es in Zukunft sehr viele kleine digitale Lagerfeuer geben wird, um denen sich Menschen scharen.“ Das erhöhe die Komplexität von Kommunikation und den Ressourcenaufwand enorm. Das könne auch bedeuten, dass man in der politischen Kommunikation auf Plattformen verzichten müsse. „Viel wichtiger wird deshalb die Strategie“, erklärt Fuchs. Indem die Gesellschaft auf immer mehr Plattformen verteilt sei, gebe es auch immer weniger gemeinsame Wissensstände in der Bevölkerung. Dadurch könnten Desinformationen leichter in öffentliche Debatten gelangen. Der gemeinsame Raum, in dem alle kommunizieren, verschwindet. „Das wird den Diskurs noch mal ganz elementar erschweren.“

Mit Blick auf diese Einschätzung ist vielleicht jetzt gar nicht die Zeit für die Frage, ob Bluesky, Mastodon, Threads oder doch X besser ist. Vielleicht bieten die aktuellen Verschiebungen bei den Social-Media-Plattformen eher Anlass für eine viel größere Debatte: Wie geben wir einer, sowohl on- als auch offline, heterogenen Gesellschaft ein gemeinsames Fundament? Wie können wir digitale Diskurse plattformübergreifend verknüpfen? Ein Weg dazu könnten „digitale Rituale“ sein, schlägt Martin Fuchs vor: „Es braucht meines Erachtens im digitalen Raum Orte, an denen wir uns treffen und lernen, anders miteinander umzugehen.“ Wie könnten diese digitalen Rituale aussehen? Dafür hat er leider noch kein Patentrezept. Aber dass wir diese Frage diskutieren sollten, liegt auf der Hand. Denn wir sollten uns nicht täuschen lassen: Hass und Hetze wie auf X sind nicht nur Symptom einer unregulierten Plattform, sondern auch Symptom eines verrohten, gesellschaftlichen Diskurses im digitalen Raum. Vielleicht ist es deshalb jetzt an der Zeit, darüber zu sprechen, nach welchen Regeln wir unsere Zukunft in den sozialen Medien gestalten wollen.

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