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„Emotionen sind ein machtvolles Instrument der Politikgestaltung“

von Nino Kapanadze

Welche Rolle spielen Gefühle in der gegenwärtigen deutschen Politik?

Gefühle haben in der Politik immer eine Rolle gespielt. Neu ist, wie stark Menschen sich dessen bewusst sind, wie sie Gefühle einsetzen und nutzen. Das betrifft einerseits die Politiker*innen und ihren Blick auf die Gefühlswelten der Bürger*innen. Aber auch wir als Beobachtende schauen sehr genau, wie Politiker*innen mit Gefühlen umgehen, wie sie ihre eigenen Gefühle ausdrücken, wie sie unsere wahrnehmen. Insofern haben Gefühle selten eine so große Rolle gespielt wie heute. Umso wichtiger ist, sie historisch und politisch einzuordnen, um immer wieder durch kritische Distanz zu erfahren: Was macht das eigentlich mit uns? Was macht es mit der Politik und mit der Gesellschaft, wenn wir all diese Gefühle beobachten und äußern?

Wo und wie dürfen Politiker*innen Gefühle zeigen?

Niemand kann pauschal beantworten, wie viel Gefühl zulässig ist. Aber als Historikerin und Zeitzeugin würde ich sagen: Die Entscheidungsspielräume der Politiker*innen, wie viel Gefühl sie in die Politik einbringen, sind weitaus größer geworden. Es gibt da heute keine klar definierten Regeln mehr. Manche Politiker*innen sind eher zurückhaltend was Gefühle anbelangt. Olaf Scholz und Angela Merkel sind gute Beispiele für den Versuch, mit Sachlichkeit, Rationalität und einer gewissen Ruhe zu überzeugen. Gleichzeitig kennen wir aber auch Politiker*innen wie Donald Trump, die hochemotional und auch emotionalisierend agieren.

Was zeigen diese Beispiele?

Politiker*innen setzen Emotionen ganz unterschiedlich ein. Manche nutzen sie aktiv. Sie machen das laut und stark. Es gibt andere, die sich davon abgrenzen. Und wiederum andere drücken sich mit Bildern, Körperhaltungen und visuellen Gesten aus. Oft sind das die Menschen, die sich am stärksten einprägen. Die Spielräume für unterschiedliche Facetten von Emotionen und Politik haben sich also erheblich erweitert. Umso wichtiger ist, dass wir als Historikerinnen vermehrt auf diese Aushandlungsprozesse schauen, sie beschreiben und einordnen. Denn Emotionen sind ein machtvolles Instrument der Politikgestaltung.

Warum werden Emotionen häufig als irrational wahrgenommen?

In der Emotionsforschung schließen sich Rationalität und Emotionalität nicht aus. Es kann ein durchaus rationales Kalkül sein, sich an bestimmten Stellen sehr emotional zu äußern. Im Idealfall kommt beides zusammen. Denn einerseits erwarten die Menschen, dass Politiker*innen nahbar sind. Sie sollen etwas von sich preisgeben, damit wir sie menschlich einschätzen können. Und dazu gehört auch ein Stück weit die emotionale Öffnung. Umgekehrt kann zu viel Emotion als störend empfunden werden. Aber auch da ist der Blick des Betrachters entscheidend.

Die Menschen erwarten, dass Politiker*innen nahbar sind. Sie sollen etwas von sich preisgeben, damit wir sie menschlich einschätzen können.

Worauf müssen Politiker*innen achten, wenn sie kommunizieren?

Sie sollten die Gefühle, die sie in ihrem Wahlkreis oder in der Gesellschaft wahrnehmen, ernstnehmen. Dazu gehört auch, Stimmungen zu entschlüsseln, zu erklären, zu vermitteln und die Menschen mitzunehmen. Nicht jedes Gefühl, nicht jede Angst in der Gesellschaft muss eins zu eins übernommen und in ein politisches Programm übersetzt werden. Es geht vielmehr darum, aufmerksam zu beobachten und aufklärend einzuordnen: Wo müssen Politiker*innen nachjustieren, relativieren? Wo müssen sie etwas anders vermitteln und Menschen helfen, Gefühle aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten? Das ist gerade angesichts der derzeitigen multiplen Krisen nicht leicht. Ich glaube, dass jede*r Politiker*in gut beraten ist, kommunikativ mit viel Empathie und Sensibilität auf die Gefühle der Menschen einzugehen, zugleich aber auch kritisch mit ihnen umzugehen.

Sind Politikerinnen mehr Kritik und Beobachtung ausgesetzt als ihre männlichen Kollegen?

Wie Frauen sich politisch äußern, wie emotional sie sich äußern, erfährt meist eine noch stärkere Beobachtung. Das betrifft auch ihre äußere Erscheinung: Wie kleiden sie sich? Welche Frisur oder Halskette tragen sie? Wie sind sie geschminkt? Aber ich würde nicht sagen, dass Frauen sich weniger emotional bewegen können. Es gab zum Beispiel eine Szene, in der Angela Merkel in einer Talkshow ihren Platz verließ, um ein weinendes geflüchtetes Kind in den Arm zu nehmen. Emotionen sind eben am Ende auch dieses Ungeplante. Wir sprechen über etwas und auf einmal kommen Gefühle zum Ausdruck, die man nicht eingeplant hat. Sie entstehen im Moment. Denken Sie etwa an Willy Brandts Kniefall in Warschau. Auch Politiker*innen, die in parteipolitische und kabinettstechnische Zwänge eingebunden sind, können ungeplant und emotional reagieren.

Es gab zum Beispiel eine Szene, in der Angela Merkel in einer Talkshow ihren Platz verließ, um ein weinendes geflüchtetes Kind in den Arm zu nehmen. Emotionen sind eben am Ende auch dieses Ungeplante.

Wie steht es um die Gefühlslage der Menschen in Deutschland?

Ich nehme Angst, Verunsicherung, stellenweise Verzweiflung, zunehmend Empörung wahr. Es stehen Sorgen im Raum, und diese Sorgen sind berechtigt. Viele Menschen sind unzufrieden damit, wie die Probleme innen- und globalpolitisch gelöst werden. Das alles führt zu einer komplexen Stimmungslage. Denn zugleich erleben wir, wie hoch problematisch die Gefühlsreaktion auf diese Krisen mit Populismus, mit Antisemitismus, mit Hass und Hetze ist. Umso wichtiger ist es, dass wir Teil einer demokratischen und pluralen Gesellschaft sind. Es gibt viele Menschen, die nach wie vor zuversichtlich und hoffnungsvoll sind. Die sich in Diskurse einbringen und Konflikte auf demokratische Art und Weise klären. Die landesweiten Demonstrationen für Demokratie zeigen dies auf eindrückliche Weise. Ich persönlich bin nach wie vor optimistisch, dass das der Weg ist, zu dem wir alle viel beitragen können. Wir müssen die Sorgen ernst nehmen. Wir müssen sie aber auch in konstruktive Lösungen überführen.

Über Agnes Arndt

Agnes Arndt publiziert und lehrt zur Europäischen Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts. Sie promovierte 2012 an der Freien Universität Berlin und wurde mit zahlreichen Buchpreisen ausgezeichnet. Ihre Forschungen zur Sozial,- Kultur- und Emotionsgeschichte führten sie nach London, Oxford, Paris, Florenz, Breslau und Warschau. Arndt ist Mitverfasserin von „Feeling Political. Emotions and Institutions since 1789, London: Palgrave Macmillen 2022“ sowie Mitherausgeberin von „Capitalist Cold. On Callousness and Other Economic Emotions in Europe and the United States, London: Routledge 2024“.

Hinweis der Redaktion

Oft werden Emotionen und Gefühle miteinander verwechselt, obwohl sie unterschiedliche Konzepte beschreiben. Während Gefühle ausschließlich auf Empfindungen basieren, setzen sich Emotionen aus vielen Komponenten zusammen: Gefühlen, körperlichen Reaktionen und kognitiven Prozessen. In diesem Artikel werden beide Begriffe verwendet, um ihre jeweiligen Aspekte zu verdeutlichen.

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