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Anti-Gender-Bewegungen und die Demokratie in Europa: Wohin steuern wir?

von Levi Kersting

Gender-Themen sind zu einem politischen Streitpunkt geworden. Rechtspopulistische Bewegungen in vielen europäischen Ländern greifen sie gezielt auf, um Wähler*innen zu mobilisieren. Wie sie dabei vorgehen, beschreiben wir im ersten Teil dieser Analyse. Klar ist: Es geht nicht nur um Geschlechterpolitik – sondern um den Angriff auf demokratische Werte.

Rechtspopulismus und der „Kulturkampf“

Feministische Bewegungen erreichen politische und gesellschaftliche Veränderungen. Ein paar Beispiele: Die Gleichstellungspolitik der Europäischen Union (EU) fordert die Gleichbehandlung der Geschlechter und ist in den meisten Verfassungen der westlichen Länder verankert. Seit den späten 1980er Jahren gibt es die EU-Richtlinie Gender Mainstreaming. Sie ist Teil der EU-Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter 2020-2025. Auch einige Queer-Feministische Errungenschaften zeigen sich in Deutschland und einigen anderen EU-Ländern: Homosexualität wird nicht mehr strafrechtlich verfolgt, gleichgeschlechtliche Paare können heiraten, 2024 trat in Deutschland das Selbstbestimmungsgesetz (SBGG) in Kraft.

Seit den 2000er Jahren nutzen immer mehr rechtspopulistische Parteien Anti-Gender-Inhalte als Teil ihrer Strategie.

Die Argumentation ist überall ähnlich: Gender-Politiken bedrohen „natürliche Ordnung“, schränken Meinungsfreiheit ein und würden gegen den Willen der Mehrheit durchgesetzt.

Vertreter*innen bezeichnen sich als Verteidiger der „traditionellen Kernfamilie“ und der Meinungsfreiheit vor der „Gender-Ideologie“ einer „korrupten Elite“. Bürger*innen, die sich als Teil der EU sehen, werden als „Lemminge“ bezeichnet, die dieser Ideologie blind hinterherlaufen [1]. Der Anti-Genderismus ist ein Türöffner für rechtspolitische Diskurse unter dem Deckmantel eines „Kulturkampfs“.

Europaweite Mobilisierung

Die Rhetorik ist erfolgreich. In vielen europäischen Ländern erzielen rechte Parteien hohe Wahlergebnisse. Die Beobachtungsstelle für gesellschaftspolitische Entwicklungen in Europa zeigt: Der gleichzeitige Anstieg ist kein Zufall, sondern ein transnationales Phänomen. Mitte der 2000er Jahre entstanden die ersten Anti-Gender-Kampagnen in Spanien, Kroatien, Italien und Slowenien. Den entscheidenden Aufschwung brachte 2012 „Manif pour Tous“, eine Demonstration gegen die gleichgeschlechtliche Ehe in Paris mit mehr als 120.000 Teilnehmenden. Im Nachgang entstanden ähnliche Bewegungen in Italien, Kroatien, Polen, Russland, Slowenien und Deutschland. Sie bezeichnen sich als „anti-elitäre Zivilgesellschaft“ oder „besorgte Bürger“ und erreichen damit eine länderübergreifende Mobilisierung. Sie nutzen lokale Narrative, verfolgen aber ein gemeinsames Ziel: Gender-Politiken als Angriff auf nationale und religiöse Werte darzustellen.

Politische Auswirkungen

Der Erfolg dieser Bewegungen hat spürbare Folgen. Die Leipziger Autoritarismus Studie (LAS) diagnostizierte bereits 2020 den Anstieg anti-demokratischer Haltungen durch rechtspopulistische Narrative. Sie wurden spätestens bei der Europawahl 2024 deutlich: Das Europäische Parlament hat inzwischen mehrere Fraktionen, die sich explizit gegen Gleichstellungspolitik aussprechen. Die Fraktion „Patrioten für Europa“ (ehemals „Identität und Demokratie“) stellt die drittgrößte Fraktion. Sie besteht aus nationalistischen bis rechtsradikalen Abgeordneten aus zwölf Ländern. Auch die AfD stellt mit „Europa der souveränen Nationen“ eine neue Fraktion im Europaparlament [2]. Die Fraktionen positionieren sich gegen die Gleichstellung der Geschlechter, reproduktive Rechte, sexuelle Aufklärung, Antidiskriminierungsgesetze und die gleichgeschlechtliche Ehe.

Der Anstieg führt dazu, dass gleichstellungspolitische Errungenschaften wieder abgebaut werden. Immer mehr Länder lehnen das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) wegen seiner Gender-Definition ab. Die Begründungen: Die Konvention propagiere Homosexualität und die „Gender-Ideologie“ [5]. Im Februar 2025 beschloss die deutsche Bundesregierung das Gewalthilfegesetz zur nachhaltigen und vollständigen Umsetzung der Istanbul-Konvention – schützt aber explizit nur cis Frauen, also Frauen, die sich mit ihrem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren können. Trans*, inter* oder nicht-binäre Menschen wurden aus dem Gesetz gestrichen. Auch das Selbstbestimmungsgesetz wird kontrovers diskutiert. Rechtspopulistische und konservative Parteien argumentierten, es fördere Gewalt gegen Frauen und Kinder [3]. Der neue Koalitionsvertrag 2025-2029 sieht deshalb eine Evaluierung bis 2026 vor.

Angriff auf demokratische Werte

Viele aktuelle politische Diskurse verstärken die Anti-Gender-Narrative. Einige Länder verankern in ihren Gesetzen, dass es nur zwei Geschlechter gibt. Besonders in den USA zeigen sich radikale Auswirkungen. Doch nicht nur trans*, inter* und nicht-binäre Menschen sind von den Einschränkungen betroffen. Die Dekrete richten sich gegen alle Programme, die Diversität, Gleichberechtigung und Inklusion sämtlicher Bevölkerungsgruppen fördern.

Die LAS 2024 zeigt, dass Anti-Feminismus, Transfeindlichkeit und Antisemitismus miteinander verschränkt sind. Der Großteil der Anti-Feminist*innen teilt auch antisemitische Ansichten. Anti-feministische und sexistische Weltbilder gibt es vor allem in der rechten Politik, werden aber auch von anderen Bevölkerungsgruppen geteilt. Frauen, trans*, inter* oder nicht-binäre Menschen bieten eine gemeinsame Angriffsfläche: Ihnen wird vorgeworfen, die natürliche Ordnung infrage zu stellen und Grenzen zu überschreiten – genau wie Jüd*innen, Muslim*innen oder Menschen mit Migrationsbiografie. Der vermeintliche Kampf gegen einen gemeinsamen Feind wird immer mehr in die gesellschaftliche Mitte geteilt – und damit die rechte und autoritäre Ideologie, dass Menschen unterschiedlich viel wert sind. Dass die Narrative wirken, zeigt auch die aktuelle Kriminalstatistik: Die Hasskriminalität gegenüber queeren Menschen hat sich seit 2010 nahezu verzehnfacht – der Verband Queere Vielfalt (LSVD) vermutet dazu eine Dunkelziffer von 80 bis 90 Prozent [4].

Deutlich wird: Anti-Genderismus hinterfragt gleichstellungspolitische Errungenschaften und lenkt damit gezielt von seinem eigentlichen Inhalt ab: Dem Angriff demokratischer Grundwerte.

Ein gemeinsames Feindbild ist ein Grundbestandteil von Autoritarismus. Die Zugehörigkeit zu einer dominierenden Gruppe legitimiert die Abwertung anderer Menschen. Einfacher gesagt: Es entsteht ein „Wir gegen die Anderen". Auch das bestätigt die LAS: Gefühle wie Angst und der Eindruck, abgehängt zu sein, verstärken rechtspopulistische Mobilisierung. Viele Menschen verspüren den Wunsch nach Kontrolle und Sicherheit sowie eine starke Unzufriedenheit mit der Regierung – hier setzen die Inhalte aus dem Anti-Genderismus an.

Was tun?

Der Anti-Genderismus hat in vielen Ländern diskriminierende Strukturen erreicht, die nicht bei queeren Menschen enden. Die fortschreitenden rechtspopulistischen Bewegungen kommen autoritären Strukturen zugute, die auf ein gemeinsames Feindbild ausgerichtet sind. Deshalb ist es besonders wichtig, sich gegen diese Entwicklungen zu stellen.

Die LAS betont in diesem Kontext zivilgesellschaftliches Engagement. Durch Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und für Demokratie fühlen sich viele Menschen ermutigt, sich aktiv für die Demokratie einzusetzen. Doch auch über Demonstrationen hinaus können wir uns engagieren: Wir können uns in demokratischen Vereinen engagieren und feministische Projekte ehrenamtlich oder finanziell unterstützen. Bildungsprojekte wie Schule der Vielfalt, SCHLAU NRW oder fair@school sensibilisieren deshalb früh für Rassismus, Sexismus und Queerfeindlichkeit.  

Wichtig ist auch, sich zu informieren, um den eigenen Standpunkt verorten zu können – und für marginalisierte Menschen einzustehen. Organisationen wie der Bundesverband trans*, die Amadeu Antonio Stiftung oder das Netzwerk für Demokratie und Courage unterstützen mit Argumentationshilfen, Studien und Aktionsideen. Viele Broschüren bieten Impulse, um sich im Alltag gegen Diskriminierung zu stellen. Ein Beispiel ist die Broschüre „Sag Was!“ der Fachstelle ANDERS & GLEICH, die aus einer Online-Befragung von 700 Menschen entstanden ist.

Demokratie schützen

Der Anti-Genderismus ist kein Randphänomen. Er ist Teil einer umfassenden Strategie, um demokratische Werte zu untergraben.

Wer Gleichstellungspolitik angreift, greift auch Grundrechte an. Eine demokratische Gesellschaft funktioniert nur, wenn sie alle Menschen schützt – unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder sexueller Orientierung. Es liegt an uns allen, den Schutz einer akzeptierenden Gesellschaft aktiv mitzugestalten: durch Aufklärung, Engagement und klare Positionierung gegen Hass und Desinformation.

Wie feministische Bewegungen und Gender-Studies unsere Gesellschaft geprägt haben – und warum sie ins Visier von Anti-Gender-Bewegungen geraten, erfahren Sie im ersten Teil. Sie wollen Haltung zeigen und sich im Alltag positionieren? Wie Sie gegen Queerfeindlichkeit argumentieren können, lesen Sie im Artikel „Du musst kein Profi sein, um Haltung zu zeigen“ – Wie Zivilcourage im Alltag gelingen kann.

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