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Die Debatte um Gender: Zwischen Wissenschaft und Desinformation

von Levi Kersting

Die öffentliche Debatte um Geschlecht und Gleichstellungspolitik läuft seit einigen Jahren. Schlagworte wie „Gender-Wahn“ oder „Gender-Gaga“ dominieren viele Diskussionen – insbesondere in sozialen Medien und politischen Kampagnen. Sie suggerieren, dass Gender – alle hervorgehobenen Begriffe erläutern wir im Glossar – eine neue Erfindung sei. Dabei ist die Auseinandersetzung um Geschlechterrollen und Selbstbestimmung nicht neu.

Gender-Theorien: Von Gleichheit bis Intersektionalität

Feministische Bewegungen haben sich über Jahrhunderte entwickelt und verschiedene Ansätze hervorgebracht. Einige gehen von der Gleichheit der Geschlechter aus, andere sehen klare Unterschiede. Sie werden teils biologisch begründet oder als gesellschaftlich geschaffene Verschiedenheiten erklärt. Letzteres diskutierte unter anderem Simone de Beauvoir in ihrem Werk Das andere Geschlecht (Le Deuxième Sexe, 1949): Soziale Zwänge formen das (weibliche) Geschlecht – in einer männlich dominierten und beherrschten Gesellschaft. Sie eröffnete in westlichen Feminismen eine Auseinandersetzung über verschiedene Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit – und damit über den gesellschaftlichen Anspruch an eine heteronormative Zweigeschlechtlichkeit.

Seit den 1980er Jahren verstärkt sich in feministischen Theorien die Kritik an unserem heteronormativen System und bisherigen Identitätspolitiken. Schwarze Aktivist*innen wie Kimberlé Crenshaw kritisieren, dass feministische Strömungen eine zu weiße und europäische Perspektive einnehmen. Dadurch beachten sie viele individuelle Diskriminierungserfahrungen nicht. Die Bürgerrechtsaktivistin zeigte mit dieser intersektionalen Analyse, dass viele verschiedene Kategorien bei Diskriminierung und Ungleichheit zusammenwirken. Eine dieser Kategorien ist Gender, also die Geschlechtsidentität.

Philosoph*in Judith Butler stellte in Das Unbehagen der Geschlechter (Gender Trouble, 1990) schließlich die Zweigeschlechtlichkeit infrage und prägte den Queer-Feminismus. Dieser setzt sich dafür ein, starre Geschlechternormen aufzulösen und damit Selbstbestimmung zu stärken. Die Gender-Studies, ein interdisziplinäres Forschungsfeld, analysieren gesellschaftliche geprägte Denkweisen und Rollen und ihre Auswirkungen auf Gesellschaft und Politik.

Anti-Genderismus: Mobilisierung gegen gesellschaftliche Veränderung

Doch feministische Bewegungen stoßen auf Widerstand – nicht erst seit dem Queer-Feminismus. Bereits 1912 gründeten einige Gruppierungen den „Deutschen Bund zur Bekämpfung von Frauenemanzipation“ als Reaktion auf die Frauenbewegung in Deutschland. Mitglieder waren Männer und Frauen aus den Mittel- und Oberschichten. Schon damals war das zentrale Argument: die Gefährdung der Demokratie und Familie und des "natürlichen Willens" der Frau [1]. Auch auf die feministischen Strömungen der 1980er und 1990er Jahre folgten Widerstände durch anti-feministische Männerrechtsbewegungen.

Seit Anfang der 2000er Jahre mobilisieren sich immer mehr anti-feministische Gruppierungen gegen geschlechts- und sexualitätsbezogene Gleichstellungspolitiken. Zielscheibe sind vermehrt trans*, inter* und nicht-binäre Menschen sowie vielfältige Familien- und Beziehungsmodelle. Der Anti-Feminismus hat eine neue Form erreicht: Anti-Genderismus, auch Anti-Gender-Bewegung oder War against Gender („Krieg gegen Gender“) genannt.

Anti-Gender-Bewegungen nutzen gezielte Kommunikationsstrategien für ihre Positionen. Politische Kampfbegriffe und Medienkampagnen suggerieren, dass Geschlechter- und Gleichstellungspolitiken eine ideologische Agenda verfolgen, die traditionelle Werte bedroht. Besonders effektiv sind solche Narrative in sozialen Medien, wo Botschaften mit starken Emotionen eine große Reichweite erzielen.

Die Rolle der Sprache

Ein entscheidendes Mittel des Anti-Genderismus ist die bewusste Umdeutung von Begriffen. „Gender-Ideologie“ wird als Kampfbegriff genutzt, um ein wissenschaftlich fundiertes Thema als manipulativ darzustellen: EU-Richtlinien wie das Gender-Mainstreaming werden als Einschränkung der Meinungsfreiheit bezeichnet. Gleichstellungspolitiken und die „Ehe für Alle“ brechen die „traditionelle Kernfamilie“ auf und bedrohen damit die gesellschaftliche und ökonomische Stabilität sowie nationale und religiöse Werte. Weitere Narrative sind die angebliche „Frühsexualisierung“ von Kindern durch Aufklärungs- und Bildungsprogramme oder die Bedrohung von Frauenschutzräumen durch trans* Personen. Diese Behauptungen sind wissenschaftlich und statistisch widerlegt, aber weit verbreitet.

Ähnlich funktioniert die Ablehnung on Political Correctness und gendergerechter Sprache: Gegner*innen argumentieren, sie sei unverständlich und unnatürlich. Dabei steht das generische Maskulinum erst seit 1995 im Duden – ein Thema, das wir in unserem Artikel zu inklusiver Sprache bereits diskutiert haben. Tatsächlich zeigt die Sprachwissenschaft, dass Sprache unser Denken beeinflusst. Geschlechtergerechte Formulierungen machen Frauen, inter* und nicht-binäre Menschen sichtbarer – und das verändert langfristig gesellschaftliche Normen. Gerade diese Veränderung ist es, die viele Gegner*innen ablehnen.

„Wir gegen die Anderen“

Wieso wirken diese kommunikativen Mittel so stark? Queer-Feminismus und Gender-Studies hinterfragen unsere bisherige Weltanschauung. Gleichstellungspolitiken wirken auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen hin. Das führt zu Hemmungen oder Irritation. Anti-Genderismus reagiert auf die Unsicherheit und füttert sie mit Desinformationen, die erstmal schwierig zu entwirren sind. Über Social Media werden sie vielfach geteilt, bevor sie widerlegt werden können. Das knüpft an Themen an, die sich mit rechten, konservativen als auch liberalen Ansichten kombinieren lassen und bietet eine einfache Lösung: Festhalten an bekannten Normen und Hierarchien, wie der „traditionellen Kernfamilie“ oder „Natürlichkeit“ der Geschlechter Mann und Frau.

Der Anti-Genderismus benutzt die „Gender-Ideologie“ als verdrehten Liberalismus-Begriff, mit dem sich Vertreter*innen unterschiedlichster gesellschaftlicher und politischer Schichten als Befreier*innen darstellen können. Oder einfach gesagt: Er konstruiert ein „Wir“ gegen „die Anderen“ – ein Grundbestandteil von Autoritarismus.

Gender als politisches Instrument

Das Problem an der gemeinsamen Feindbildkonstruktion ist, dass sie rechtspopulistische Ansichten gesellschaftsfähig macht. Traditionelle und hierarchische Geschlechtermodelle sind Leitbilder völkischer und nationalistischer Ideologien [2]. Schlagworte wie „Frühsexualisierung“ oder „Verunstaltung der Deutschen Sprache“ sind Teil rechter Parteiprogramme und Forderungen. Der gemeinsame Nenner ist die Familienpolitik – mit der traditionellen Kernfamilie als Basis für eine funktionierende Gesellschaft.

Die Auseinandersetzung um Gender ist damit mehr als eine gesellschaftliche Debatte. Sie beeinflusst politische Entscheidungen, Medienberichte und gesellschaftliche Einstellungen. Welche Auswirkungen das für die Demokratie in der Europäischen Union hat, lesen Sie im zweiten Teil, der im April erscheint.

Glossar

Autoritarismus ist eine diktatorische Herrschaftsform. Anders als eine Diktatur lässt sie allerdings ein gewisses Maß an Pluralität zu. Autoritäre Systeme hindern oppositionelle Parteien daran, demokratisch mitzuwirken. Sie verfolgen weniger bestimmte Ideologien, sondern halten stark an Traditionen und bestimmten Wertvorstellungen fest.

Gender ist ein englischer Begriff und meint das soziale Geschlecht. Es unterscheidet sich vom biologischen Geschlecht („sex“) und umfasst alle gesellschaftlichen Normen und Erwartungen, die an ein Geschlecht gestellt werden. Gender verweist damit auf die Geschlechtsidentität, welche nicht mit dem bei Geburt zugewiesenem Geschlecht übereinstimmen muss – und gar nicht innerhalb der kulturellen Zweigeschlechtlichkeit liegen muss.

Heteronormative Zweigeschlechtlichkeit/Heteronormativität ist die gesellschaftlich verankerte Annahme, dass es zwei Geschlechter gibt (Mann und Frau) und sich diese zueinander hingezogen fühlen. Begründet wird sie mit einer vermeintlichen Naturgegebenheit. Die Annahme ist zwar schon alt, allerdings nicht überall auf der Welt selbstverständlich und von gesellschaftlichen Einflüssen abhängig: In vielen indigenen Völkern gibt es mehr als zwei Geschlechter und Rollen. Allerdings wurde ein großer Teil der kulturellen Vielfalt mit der Kolonialisierung ausgelöscht [3]. Indigene Geschichte ist damit keine trans* Geschichte, kann jedoch Anstöße zum Verständnis queerer Lebensrealitäten und erzwungener Zweigeschlechtlichkeit geben [4].

Intersektionale Analyse/Intersektionalität untersucht verschiedene Merkmale wie Herkunft, Hautfarbe oder Geschlecht und wie sie miteinander verbunden sind. Sie beeinflussen, wie Menschen Diskriminierung oder Privilegien erleben. Die Analyse verdeutlicht, dass Ungleichheit verschiedene Ursachen hat, die sich gegenseitig verstärken können. Der Begriff stammt vom englischen Wort „Intersection“ für Straßenkreuzung und verbildlicht, dass von mehreren Seiten Dinge aufeinandertreffen können.  

Policital Correctness/Politische Korrektheit bedeutet, sich respektvoll und diskriminierungsfrei zu verhalten. Dazu zählt zum Beispiel ein Sprachgebrauch, der keine verletzenden oder ausgrenzenden Stereotype reproduziert.

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