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Gemeinwohl als Wille und Vorstellung: Eine Annäherung an einen umkämpften Begriff

von Sebastian Jarzebski

Klar ist, kaum jemand kann heute behaupten, dass Gemeinwohl nicht ein Ziel unserer Gesellschaft sein sollte. Gemeinwohl ist common sense in der politischen Kommunikation geworden. Oder anders: Politische Ziele zu formulieren, die erklärtermaßen Partikularinteressen verfolgen, haben mit Legitimationsproblemen zu kämpfen. Dabei ist nicht immer klar, was darunter verstanden wird: Ob das Gemeinwohl als rhetorische Rechtfertigungsfigur ins Feld geführt wird oder ob es das eigentliche Ziel politischen Handelns ist. Hier hilft ein Blick auf unterschiedliche Verwendungsweisen.

Die Konrad-Adenauer-Stiftung konstatiert im Rekurs auf ihre christlichen Werte und die „Sozialnatur des Menschen“: „Nur ein ausgewogenes Zusammenspiel aller gesellschaftlichen Kräfte kann das Gemeinwohl garantieren.“ Wohingegen die Friedrich-Ebert-Stiftung festhält: „Ein gutes Weltwirtschaftssystem dient dem Gemeinwohl. Es löst die soziale Frage, statt sie zu verschärfen.“ In diesen Postulaten stecken ganz unterschiedliche Haltungen zu unserem politischen Gemeinwesen. Aber sie eint die Überzeugung, dass politisches Handeln auf das Gemeinwohl ausgerichtet werden muss. Gemeinwohl scheint ein Zielzustand politischer Entitäten zu sein, eine Maxime, auf die sich politisches Handeln ausrichtet – zumindest mit Blick auf die politischen Bildungsorganisationen der beiden ehemaligen Volksparteien. Und doch, das Grundgesetz der BRD kennt den Begriff des Gemeinwohls nicht. Einzig die Formulierung in Artikel 14 „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ lässt eine Idee von Gemeininteresse aufscheinen.

Gemeinwohl als Essential Contested Concept

Gemeinwohl ist ein Essential Contested Concept, sinngemäß ein wesensmäßig umstrittener Begriff. Der politische Theoretiker Walter Bryce Gallie prägte in den 50er Jahren dieses Konzept, das von George Lakoff in die Gegenwart überführt wurde. Es besagt, dass wir uns als Gesellschaft über komplexe Phänomene verständigen können, auch wenn wir gänzlich unterschiedliche Perspektiven auf sie haben. Essential Contested Concepts verfügen über einen Begriffskern oder ein Begriffsskelett, das individuell ausgestaltet werden kann. Wir alle geben also bildlich „Fleisch an die Knochen“, wenn wir über das Gemeinwohl sprechen.

Können oder müssen wir uns Gemeinwohl leisten?

Was dient dem Wohle der Allgemeinheit? Diese Frage verhandelt Gesellschaft jeden Tag aufs Neue. Dabei muss sie abstrakte Abwägungen treffen, zum Beispiel ob im Einzelfall die Einschränkung individueller Freiheit zum Wohle der Gemeinschaft gerechtfertigt ist. Ob wir es vertreten können, Flächen zu enteignen, um nachhaltige Energie zu produzieren. Ob wir die Verursacher*innen gesellschaftlicher Kosten individuell zur Kasse bitten, oder ob wir als Gemeinwesen für unsere Freiheit aufkommen. Ob wir die Schwachen in der Gesellschaft zu Lasten der Freiheit der Starken schützen müssen. Die Debatte um eine Covid-Impfpflicht hat beispielhaft gezeigt, wie kompliziert diese Entscheidung ist. Und sie zeigt, wie schwer es politischen Akteur*innen fällt, in diesen Debatten klare Positionen einzunehmen und sie zu kommunizieren.
 
Das wird eine zentrale Herausforderung der kommenden Jahre sein. Politik muss angesichts der gesellschaftlichen Megakrisen für das Gemeinwohl werben. Denn klar wird langsam, dass wir unseren Wohlstand in Summe nicht werden halten können. „Wir werden ärmer werden“, wie Wirtschaftsminister Habeck neulich eindrücklich in einem Interview formulierte. Mit Blick auf das Gemeinwohl stellt sich die Frage, wen dieses „Wir“ alles inkludiert. Werden wir als Gesellschaft ärmer und schaffen es, die Kosten der Transformation gerecht zu verteilen? Oder trifft es nur einen Teil, vielleicht sogar den Teil, der bislang von Krisen meist verschont blieb? Die Antwort auf diese Frage wird zeigen, ob Gemeinwohl ein Konzept des Wohlstands ist oder ob es auch in Krisenzeiten überdauert. Und ob wir uns Gemeinwohl leisten können oder leisten müssen.

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