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Einer für alle: Was können wir von Tieren über das Gemeinwohl lernen?

von Tamara Davies

Ameise

Haben Sie schon mal jemanden auf der Rolltreppe überholt? Oder sich an der Kasse vorgedrängelt? Ameisen würden nie so handeln. Sind sie unterwegs, so halten Ameisen einen festen Abstand ein und überholen sich nicht gegenseitig für den vermeintlich eigenen Vorteil. So gewinnen alle gleichermaßen, wo Konkurrenzverhalten nur aufhalten würde. Ihr Erfolgsgeheimnis ist Kooperation für das Wohl der gesamten Kolonie. Treiber-Ameisen können auf ihren Raubzügen im Regenwald gemeinsam sogar deutlich größere Frösche erlegen und durch ihre schiere Masse an kleinen beißwilligen Körpern erfolgreich Fressfeinde abschrecken. Aber auch unsere heimische Ameise ist als Gruppe eine ernstzunehmende Kraft: Bei Veränderungen des Umfelds oder Angriffen, selbst auf einzelne Tiere, reagieren Ameisenstaaten wie ein geschlossener großer Organismus. Jede Ameise hat eine feste Funktion in ihrer Kolonie und trägt damit zur raschen Problemlösung für alle bei.

Wir lernen von der Ameise: Durch die gezielte Bündelung individueller Kräfte und eine sinnvolle Arbeitsteilung können Menschen mehr erreichen als einzeln für sich – und so zusammen fürs Gemeinwohl über sich hinauswachsen.

Bonobo-Affe

Im Gegensatz zu ihren nahen Verwandten, den Schimpansen, lösen Bonobo-Affen Konflikte weniger mit Aggressivität, sondern durch soziale Handlungen wie Futtergeschenke, Geschlechtsverkehr oder gegenseitige Fellpflege. Werden sie dabei unterbrochen, wenn sie das Fell ihrer Artgenossen pflegen, so kehren Bonobos nach der Störung häufiger zur Tätigkeit zurück als bei einer Unterbrechung ihrer eigenen Fellpflege. Außerdem kommunizieren sie nach ihrer Rückkehr auffällig viel miteinander. Forscher*innen interpretieren dieses Verhalten so: Die Bonobos setzen die angefangene Fürsorge anscheinend aus Pflichtgefühl fort und entschuldigen sich sogar dafür, dass sie den anderen Affen kurzzeitig haben hängen lassen.

Wir lernen vom Bonobo-Affen: Versprochen ist versprochen. Verbindlichkeit ist ein wichtiges Gut, wenn wir im Sinne des Gemeinwohls handeln möchten. Nur wenn unser Gegenüber sich darauf verlassen kann, dass wir Zugesagtes auch einhalten, können wir einander vertrauen.

Rabe

Die intelligenten Rabenvögel sind im Umgang mit ihren Artgenossen vor allem auf ihren eigenen Vorteil bedacht: Sie können den sozialen Rang ihres Gegenübers einschätzen und so entscheiden, ob sich eine Zusammenarbeit für sie lohnt. Futter verstecken sie mitunter misstrauisch, wenn sie sich von anderen Raben beobachtet fühlen. Ihre Intelligenz hat aber nicht nur positive Folgen für den jeweiligen Vogel selbst: Kenntnisse und Techniken zur Problemlösung geben Rabenvögel an Artgenossen weiter – und schaffen so neue Traditionen zum Umgang mit Herausforderungen für kommende Rabengenerationen: Damit ihre Nester selbst dem Wasserstrahl der Feuerwehr standhalten, nutzen japanische Rabenkrähen mittlerweile Drahtkleiderbügel, die sie von Balkonen stibitzen.

Wir lernen vom Raben: Wissenstransfer ist King. Kreative Problemlösungsstrategien sind schön und gut. Aber am nützlichsten fürs Gemeinwohl ist es, wenn wir sie auch mit anderen teilen.

Orca

Auch Schwertwale entwickeln Traditionen, indem sie zum Beispiel neue Jagdstrategien an Artgenossen weitergeben. Aber vor allem eine ganz andere Sache macht sie so besonders: Orcas besitzen eine in der Tierwelt nahezu unvergleichbare emotionale Intelligenz. Sie können Gefühle wie Freude, Angst, Liebe und Wut in Dimensionen wahrnehmen, die für Menschen aktuell noch nicht einmal vollständig wahrnehmbar sind. In ihren engen Familienverbänden bleiben sie ein Leben lang zusammen und kommunizieren im ganz eigenen Dialekt miteinander. Sie teilen ihre erbeutete Nahrung und kümmern sich um erkrankte Familienmitglieder. Wenn abenteuerliche junge Wale verloren gehen, können sie Hilferufe über Langstreckenwellen ausstoßen, um ihre Gruppe wiederzufinden.

Wir lernen von Orcas: Schwächere schützen und niemanden zurücklassen – all das machen wir besonders dann, wenn wir uns besser kennen. Emotionale Bande und Empathie für andere sind also die Devise fürs Gemeinwohl.

Ist Gemeinwohl auch Eigeninteresse?

Wenn wir uns das Sozialverhalten in der Tierwelt ansehen, ist Gemeinwohl oft ganz stark mit dem Wohl des einzelnen Tieres verknüpft. Erringt der Bonobo-Affe mit der Fellpflege seiner Artgenossin ihre Sympathie, vermeidet er Konflikte, bleibt beliebter Teil derjenigen Gruppe, die sein Überleben sichert. Die Ameise vernachlässigt mit ihrer kooperationsorientierten Natur zunächst vermeintlich eigene Interessen zugunsten des größeren Organismus Ameisenstaat. Am Ende profitiert sie aber durch ihre Rolle im Gefüge: Ohne das feste Zusammenspiel mit den anderen Ameisen wäre sie nur ein kleines Insekt für sich allein. Gemeinwohl ist für sie immer auch Eigeninteresse. Ein Gedanke also: Ist Gemeinwohl auch unter uns Menschen ein wirklicher Gegensatz zum Eigeninteresse? Oder geht es beim vermeintlichen Konflikt zwischen beiden Werten eigentlich um etwas ganz anderes? Nämlich um die Frage, was eigentlich Gemeinwohl ist – und darum, wer genau das entscheidet.

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