Am 21. Juli 2024 kam es zu einem politischen Erdbeben, dessen Erschütterungen wir auch in Deutschland noch spüren konnten: US-Präsident Joe Biden kündigte an, dass er nicht zur Präsidentschaftswahl im November antreten wird. Die US-Demokraten schafften es, aus dieser außergewöhnlichen Situation gestärkt hervorzugehen. Ein gewichtiger Grund dafür ist sicherlich die innerparteiliche Geschlossenheit, mit der sich die Demokraten hinter der Vizepräsidentin und nun Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris versammelt haben. Oder, dass der Rückzug Bidens eine lang ersehnte Staffelübergabe darstellt. Dass die Harris-Kampagne binnen weniger Wochen den Rückstand in den Umfragen drehen konnte, liegt aber eben auch daran, dass sie diesen Rückenwind in den digitalen Raum übertragen konnte – durch die geschickte Nutzung von Memes und digitalen Trends. Doch wie haben Harris und ihr Team das geschafft?
Brat Girl Summer: Politik und Popkultur im Einklang
Wer den Account der Harris-Kampagne auf X bzw. Twitter ansteuert, findet als Bannerbild einen giftgrünen Hintergrund mit der verschwommenen Aufschrift „kamala hq“ vor. Auf der Website der Harris-Kampagne ist das Giftgrün allerdings nicht zu finden. Dort dominiert Blau – die Farbe der US-Demokraten. Aber warum dieser optische Stilbruch auf dem Social-Media-Kanal der Kampagne? Die Antwort: Die Verantwortlichen haben verstanden, wie man Politik und Popkultur effektiv zusammenbringt. Denn das Bannerbild ist eine Anspielung auf das im Juli erschienene Album „brat“ der britischen Sängerin Charli xcx. „Brat“ steht, laut Charli xcx, für Frauen, die ein bisschen chaotisch, frech aber ehrlich sind. Mit ihrem Album entstand der „brat girl summer“ – ein Online-Trend, der von unzähligen Beiträgen auf TikTok und Instagram begleitet wurde. Kurz nach Start der Kampagne von Harris schrieb Charli xcx auf X: „kamala IS brat“.
So startete der „brat girl summer“ für Kamala Harris. Die User*innen posteten jetzt nicht nur Content zu Charli xcx und dem „brat girl summer“, sondern verbanden es mit Harris. So entstanden zahlreiche Videos zu Harris, in denen beispielsweise ihre Reden mit der Musik von Charli xcx unterlegt oder in das Videomaterial im unverwechselbaren „brat“-grün eingefärbt wurden. Und auch die Kampagne sprang auf den Trend auf – beispielsweise durch das erwähnte Bannerbild auf X.
Dass die Harris-Kampagne Memes und digitale Trends schnell aufgreifen kann, zeigt auch jüngst das Beispiel der „midwestern princess“. Die „midwestern princess“ leitet sich von einem Album der Musikerin Chappell Roan ab: The Rise and Fall of a Midwest Princess. Laut Chappell Roan sei eine „midwestern princess“ ein Gefühl oder eine Haltung von auffällig, kitschig und provokant wie eine Cowgirl-Diva bis hin zu liebend, akzeptierend und frei. Ein X-User fand diese Beschreibung scheinbar sehr passend für Vizepräsidentschaftskandidaten Tim Walz und montierte sein Gesicht auf Chappell Roans Albumcover. Ein anderer User gestaltete eine Cap im Camouflage-Muster mit orangefarbenen „Harris Walz“-Schriftzug – die große Ähnlichkeit zu einem Merchandise-Artikel der Sängerin hatte.
Dem Kampagnen-Team von Kamala Harris entgingen die Tweets nicht. Sie produzierten die Caps selbst. Keine zwölf Stunden später postete Walz ein Bild, auf dem er eine der Caps trägt – samt Link zum Online-Shop der Kampagne. Die Cap war innerhalb von 30 Minuten ausverkauft. Die Beschreibung der Cap im Store war trocken und ein kleiner Seitenhieb auf die roten MAGA-Caps der Trump-Anhänger: „You asked, we answered. The most iconic political hat in America.“ („Ihr habt gefragt, wir haben geliefert. Der ikonischste politische Hut Amerikas.“)
Beide Beispiele verdeutlichen, wie schnell die Harris-Kampagne die Situation erkannte und für ihre Zwecke nutzte. Politik und Popkultur sind insbesondere in den USA seit langem eng miteinander verknüpft. Auch wenn es in Deutschland nicht die gleichen Ausmaße erreicht hat wie in den USA, befeuert Social Media diesen Prozess auch hierzulande. Kamalas „brat girl summer“ verdeutlichte den Link zwischen Popkultur und Politik nochmals. Beide Beispiele zeigen, wie wichtig es in der politischen Kommunikation ist, wirklich nah an den Zielgruppen zu sein. Die Harris-Kampagne konnte beide Trends nur für sich nutzen, weil sie frühzeitig davon wusste und sofort handelte. Sie erkannte das Potenzial der beiden Trends, Harris und Walz insbesondere bei der Gen-Z nahbarer und bekannter zu machen. Durch die geschickte Verknüpfung der öffentlichen Persönlichkeiten mit den popkulturellen Phänomenen „brat“ und „midwestern princess“ gelang es dem Social-Media Team, der Kampagne ein Image zu verpassen, das junge Wähler*innen anspricht. Und: Sie konnten beide Politiker*innen mithilfe der beiden Trends effektiv als Gegenentwurf zu Donald Trump und J.D. Vance positionieren.
„Project Coconut“: Memes und Symbole im Wahlkampf
Im Mai 2023 hielt Kamala Harris eine Rede im Weißen Haus über das Bildungssystem für lateinamerikanische Schüler*innen. Dabei zitierte sie ihre Mutter: „Glaubst du, du bist von einem Kokosnussbaum gefallen?“ Mit dieser Anekdote wollte die Vizepräsidentin verdeutlichen, dass die Chancen der Schüler*innen stark vom familiären und finanziellen Hintergrund abhängen – also dem Kontext, in den man hineingeboren wird. Die Republikaner versuchten Harris mit dem Clip zu attackieren. Das ging nach hinten los: Im politischen Raum bedeuten Memes immer auch einen Kampf um Deutungshoheit, Symbole und Symbolik. Und den haben die Republikaner beim Coconut-Video verloren. Kokosnuss und Palme wurden zu den Symbolen der Harris-Kampagne. Die Emojis tauchen in den Beiträgen und Benutzernamen zahlreicher Unterstützer*innen auf. Sie bezeichnen sich als „coconut-pilled“ und teilen das Video der Rede tausendfach – gerne in Verbindung mit dem „brat girl summer“. Die Harris-Kampagne reagierte natürlich auch auf das Meme. In der X- und Instagram-Bio der Kampagne steht lediglich „providing context“ – liefert Kontext. Diese Beispiel zeigt, wie gut leicht verständliche und einfach zu teilende Elemente wie Videos, Bilder, Worte oder Emojis in der politischen Kommunikation funktionieren können.
Außerdem zeigt die Kokosnuss-Anekdote, wie wichtig „Memeability“ in der politischen Kommunikation geworden ist. „Memeability“ beschreibt die Fähigkeit, einzelne Personen oder Dinge in Memes zu übersetzen. Denn gute Memes fallen auf und bleiben im Kopf – zum Beispiel indem sie besonders unterhalten oder schockieren. Memes können dabei natürlich, gerade im politischen Kontext, auch schon einmal „cringe“ oder peinlich wirken. Trotzdem gilt es die Potenziale zu nutzen. Kamala Harris ist sehr „memeable“. So gibt es beispielsweise einige Videos von ihr, in denen sie mit fast kindlicher Begeisterung über Venn-Diagramme spricht. Auch ihr Lachen oder ihre Tanz-Moves greifen Unterstützer*innen gerne in Meme-Form auf. Die Memes halfen und helfen der Kampagne dabei, Kamala Harris als echte Person zu inszenieren. Und sie zeigen, dass in der politischen Kommunikation nicht immer nur harte Fakten dargelegt werden müssen, sondern Austausch auf einer nahbareren Ebene stattfindet.
Weird aber wahr: Wie die Harris-Kampagne Botschaften setzt
Mit den Memes und Trends nutzte die Harris-Kampagne etwas, das aus der Community selbst kommt. Die Harris-Kampagne war aber auch in der Lage, eigene Botschaften zu setzen. Eine Inspiration könnte einer der Hits des Sommers sein: „Not like us“ von US-Rapper Kendrick Lamar. „They not like us“ – sie sind nicht wie wir. Das sagt Lamar in seinem Hit-Song über den aktuell kommerziell erfolgreichsten Hip-Hop-Künstler Drake. Die Fehde der beiden Musiker erreichte im April, nach rund zehn Jahren gegenseitiger Provokationen, ihren Höhepunkt. Lamar erhob dabei schwere Vorwürfe gegenüber Drake. In „Not like us“ manifestierte sich Lamars Narrativ endgültig: Drake ist nicht wie wir. Damit brachte Lamar ein Gefühl auf den Punkt, dass viele in Bezug auf Drake teilen. Binnen kürzester Zeit wurde der Song zum Hit und millionenfach gestreamt.
Die Harris-Kampagne machte sich die Kern-Botschaft in Lamars Songs zunutze: Sie sind nicht wie wir. Dazu benutzen sie das kleine Wörtchen „weird“– also „seltsam“ oder „komisch“. Wenn Trump nicht versteht, dass Kamala Harris mit einer indischen Mutter und einem dunkelhäutigem Vater sowohl indischer als auch schwarzer Abstammung ist, dann ist das weird. Wenn sein Vizepräsidentschaftskandidat JD Vance junge Frauen ohne Kinder pauschal als „kinderlose Katzen-Ladys“ bezeichnet, dann ist das auch weird. Ähnlich wie Lamar bringen die US-Demokraten in Interviews, Wahlveranstaltungen und Social Media das Gefühl vieler Menschen auf den Punkt. Die „weird“-Botschaft zieht sich nicht nur durch die Kommunikation von Kamala Harris und ihres Vizepräsidentschaftskandidaten Tim Walz (der als Ideengeber der Strategie gilt), sondern hat auch den digitalen Raum übernommen. Sie ist damit selbst zu einem Meme geworden. Auf Social-Media-Plattformen wie Reddit ist inzwischen unter vielen Beiträgen zu den kontroversen Aussagen von Trump und Vance Kommentare zu finden, dass die beiden Republikaner „weird“ seien. Der Running-Gag nimmt damit seinen Lauf – das Ende ist noch nicht abzusehen.
Die weird-Botschaft ist gar nicht mal so neu. Auch andere Kampagnen oder Parteien, in den USA und in Europa, haben die politischen Gegner*innen als anders oder abgehoben als die Wählerschaft geframet. Beispiele sind Trumps „Crooked Hillary“, Obamas „Romney Hood“, die Leave-Kampagne zum Brexit oder auch die AfD mit ihrer Botschaft zum Bundestagswahlkampf 2021 „Deutschland, aber normal“. Dass die weird-Botschaft im Präsidentschaftswahlkampf 2024 so verfangen konnte, hängt an drei Faktoren: Einfachheit, Identität und Vibe. Die Botschaft „Sie sind nicht wie wir, sondern seltsam“, ist einfach zu verstehen – und für die Harris-Unterstützer*innen ohne Probleme zu nutzen. Sie ist nicht clever oder komplex, das Wort funktioniert immer. Und genau das ist das Geheimnis. Die Botschaft schafft eine gemeinsame Identität – eines der Kennzeichen eines erfolgreichen Memes.Gleichzeitig bringt sie das zugrundeliegende Gefühl – den Vibe – zum Ausdruck, den viele Wähler*innen empfinden. Trump und seine absurden Aussagen sind seit 2015 Teil der täglichen Berichterstattung. Durch das Wort „weird“ konnte die Harris-Kampagne das Gefühl des permanenten Kopfschüttelns für die eigene Kampagne nutzen. Und sie bietet Unterstützer*innen online einen Weg, um zu interagieren.
Good Vibes only? Was politische Kommunikation braucht
Die Harris-Kampagne hat in den ersten Wochen nach dem Rückzug von Joe Biden im digitalen Raum sehr vieles richtig gemacht. Die deutlichen Verschiebungen in den Umfragen sind nur ein Beweis dafür, das hohe Engagement auf Social Media ein anderer. Natürlich sind die Gründe nicht nur durch politische Kommunikationsmaßnahmen zu erklären, sondern unter anderem auch durch die grundsätzliche Unzufriedenheit mit ihrem Vorgänger und ihrem republikanischen Widersacher oder durch das Momentum ihrer Nominierung. Trotzdem: Bereits jetzt lässt sich einiges mitnehmen. In der politischen Kommunikation geht es nicht rein um Fakten und Vorhaben, es geht auch um das Gefühl, den Vibe. Die Harris-Kampagne schafft es den Menschen ein gutes Gefühl, „good vibes“, zu geben. Sowohl Harris als auch Walz vermitteln dieses gute Gefühl, Stichwort „memeability“, durch ihren nahbaren, unterhaltsamen und manchmal etwas „knuffigen“ öffentlichen Auftritt.
Daneben hat die Kampagne es verstanden, zuzuhören. Beziehungsweise zu zeigen (und zu beweisen), dass sie den User*innen zuhört. Zuhören bedeutet auf Social Media nicht zwingend, im Community Management auf jeden Kommentar zu antworten. Es bedeutet vielmehr, die Lebenswelt der User*innen aufzugreifen. Das funktioniert eben beispielsweise über popkulturelle Referenzen, Trends oder Memes. Denn sie sind konkreter Teil der Lebenswelt vieler Menschen. Diese Lebenswelt in der Kommunikation aufzugreifen, schafft Gemeinsamkeiten. Natürlich ist der Grad zur Peinlichkeit schmal – aber Social Media ist für Kommunikator*innen prinzipiell kein Ort ohne Risiko und Fettnäpfchen. Wer nicht ins Fettnäpfchen treten will, muss die Lebenswelt und die Gefühle der Zielgruppen – Stichwort „weird – verstehen und kommunizieren. Und beides kann man nur herauskitzeln, wenn man zuhört. Social Media ist keine Einbahnstraße sondern eine Echokammer.
All das hätte aber in den vergangenen Wochen nicht so gut funktioniert, wenn das Kampagnen-Team nicht entsprechend gut aufgestellt gewesen wäre. Kamala Harris übernahm Bidens Kampagnen-Team und hatte damit eine Basis von 175 Mitarbeiter*innen mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Darunter auch die Social-Media-Expert*innen. Jeder Social-Media-Account wird passgenau durch das Team bespielt – zum Beispiel mit Anpassungen in der Tonalität oder beim Humor. Das funktioniert nur, wenn das jeweilige Team auch die Plattformen versteht. Das Gen-Z-Team der Kampagne besteht zum Beispiel aus fünf Personen unter 25 Jahren – angeführt von Parker Butler (24) und Lauren Kapp (25). Sie verantworten den TikTok-Account der Kampagne. Abgesehen von den grundsätzlichen Regeln sind sie recht frei darin, Content für die Plattform zu erstellen. Und diese Freiheit ist wichtig. Denn wer zu spät auf ein Meme oder Trend aufspringt, verschenkt wertvolles Potenzial im Kampf um die Aufmerksamkeit der Zielgruppen. Erfolgreich auf Social Media unterwegs zu sein braucht also schlanke Prozesse im Team.
Bis zur Wahl im November kann noch viel passieren. Auch Überraschendes – Stichwort „october surprise“. Wie Kyle Chayka für The New Yorker schreibt, zählt auf Social Media der Moment – und nicht, ob alle Beiträge auch in ein paar Monaten Sinn machen. Unabhängig der Ergebnisse sind die ersten Wochen der Harris-Kampagne aus Kommunikationssicht aber beeindruckend. Sie zeigt, wie politische Kommunikation in der Zukunft funktionieren könnte. Und sie zeigt auch, wie wir in Zukunft gegen destruktive Kräfte online mobilisieren könnten.