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30 Jahre nach dem Mauerfall: Getrennt statt feierlich vereint?

von Emilia Göhler und Mareike Hoffmann

Es hätte um vieles gehen können im Wahljahr 2019. Wie sieht das Europa der Zukunft aus? Welche Weichen stellen wir in der Landespolitik? Wie bekämpfen wir als Gesellschaft den erstarkenden Rechtspopulismus? Es hätte auch ein Jahr des Feierns werden können. 100 Jahre Frauenwahlrecht. 30 Jahre UN-Kinderrechtskonvention. 30 Jahre Mauerfall. Doch nach Feiern ist vielen nicht zumute. Denn die öffentliche Debatte war in den letzten Monaten bestimmt von einem Thema: der AfD im Osten der Republik. 

Wir reden über die Ostdeutschen und das Erstarken der Rechten, über Wahlerfolge der AfD. Hat die Wiedervereinigung kulturell oder ideologisch womöglich gar nicht stattgefunden? Drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall reden wir oft über Deutschland, als wären es zwei verschiedene Länder. Ein Teil des Landes ist „abgehängt“, wie es in unzähligen Artikeln heißt. Im anderen Teil des Landes passiert alles andere. Das ist zumindest der Eindruck, den man mit Blick auf die Berichterstattung der letzten Jahre gewinnen konnte. Diskutieren wir derzeit über einen gesellschaftlichen Zusammenhalt, den es so vielleicht gar nicht gibt? Wieso geht die Strategie der AfD im Osten vermeintlich besonders gut auf? Und wo können bzw. müssen wir in Zukunft, auch kommunikativ, ansetzen, um als Gesellschaft wieder mehr zusammenzuwachsen? 

Wählt Ostdeutschland anders?

Die AfD hat bei den letzten Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen hohe Ergebnisse erzielt. Das ist ein Fakt. Machen wir es uns aber zu einfach damit, dies als ein spezifisch ostdeutsches Phänomen zu sehen? „In absoluten Zahlen gab es bei der Bundestagswahl und der Europawahl mehr AfD-Wähler im Westen als im Osten“, sagt der Politikwissenschaftler und Wahlforscher Karl-Rudolf Korte. Es gebe in Ostdeutschland aber durchaus eine Besonderheit: „Prozentual sieht es auf dem Wählermarkt im Osten spektakulärer aus, weil dort auch keine gewachsenen Bindungen zwischen den Bürgern und ihren Parteien bestehen“, so Korte. Dass dieses dynamischere Wahlverhalten vor allem der AfD zugute kommt, ist „rational nur schwer zu erklären“, meint der Wahlforscher. Die Ursache seien weniger ökonomische Gründe, sondern eher ein Gefühl vieler Menschen in Ostdeutschland: „Nicht der Abstieg, sondern die Angst davor macht den Unterschied aus.“ Tiefgreifende Umwälzungen in der Arbeitswelt, Berufe, die es mit fortschreitender Digitalisierung nicht mehr geben wird, Unternehmen, die unter dem Druck des internationalen Wettbewerbs bestehen müssen – all das scheint die eigene Zukunft zu bedrohen. Zwar betrifft diese Unsicherheit Menschen in Bottrop genauso wie in der Brandenburger Lausitz. Doch haben die Menschen in Ostdeutschland schon einmal am eigenen Leibe erfahren, wie es ist, wenn sich von einem Tag auf den anderen alles ändert: Das „Rendezvous mit der Globalisierung“ trifft schließlich, so Korte, schon wieder dieselbe Generation, die vor 30 Jahren durch die Wende eine massive Umwälzung des eigenen Lebens erfahren hat und bis heute mitunter das Gefühl hat, nicht so richtig dazuzugehören. Ein Gefühl, das die AfD mit Losungen wie „Wir sind das Volk“ und „Wir vollenden die Wende“ in ihrem Wahlkampf bei den Landtagswahlen 2019 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen ganz bewusst aufgegriffen hat. „Die AfD instrumentalisiert die Geschichte und schreibt sie neu“, fasst die Journalistin Géraldine Schwarz diese Strategie zusammen. Die Botschaft dahinter: Wir sind da, wir nehmen euch ernst. Diese Botschaften spielen eine Rolle für die Entscheidung, wem man an der Wahlurne sein Kreuz gibt: „Man darf die psychologische Komponente nicht außer Acht lassen. Die AfD hat das verstanden, während die anderen Parteien es verschlafen haben“, sagt Schwarz. 

Vergangenheit hinterlässt Spuren

Ursachen für Erfolge im rechten Parteienspektrum in Ostdeutschland sieht sie aber nicht nur in psychologischen Faktoren und den Erfahrungen der Nachwendezeit, sondern auch in den Jahren der deutschen Teilung selbst. Für ihr biografisch angelegtes Buch „Die Gedächtnislosen“ hat sich die deutsch-französische Journalistin mit ihrer eigenen Familiengeschichte auseinandergesetzt und die Rolle ihrer Großeltern im Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit aufgearbeitet. Gestoßen ist sie dabei auf Geschichten von Kollaboration und Verdrängung, sowohl auf der deutschen als auch auf der französischen Seite. Aus ihren Erkenntnissen hat Schwarz eine These entwickelt: In Gesellschaften, die sich nicht ehrlich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, hat die Demokratie einen schweren Stand. Umgekehrt bedeutet dies: Sich als Bevölkerung der eigenen historischen Rolle und Verantwortung zu stellen ist eine Grundlage dafür, rechten Tendenzen Einhalt zu gebieten. Der Umgang mit dem Erbe des Nationalsozialismus sei in der Bundesrepublik und der DDR sehr verschieden gewesen und habe zu entsprechend unterschiedlichen Ergebnissen geführt: In der Bundesrepublik sei man – nach zwei Jahrzehnten der Verdrängung – ab den 60er Jahren die Aufarbeitung bewusst angegangen: „Man hat sich die Frage gestellt: Wie wird man zum Täter? Und wie kann man verhindern, sich manipulieren zu lassen?“, sagt Géraldine Schwarz. In der DDR habe man sich hingegen mit den Opfern identifiziert und den Antifaschismus zur Maxime erklärt. So blieb eine tiefergehende Reflexion der Verantwortung der Bevölkerung im Nationalsozialismus aus. In der Folge bedeute dies: „Man ist sich dann auch seiner Rolle in der Gegenwart nicht bewusst. Das entmündigt und schafft ein Gefühl der Machtlosigkeit.“ Das zeige sich auch in den ehemals sozialistischen Ländern Osteuropas, aber auch in Italien, wo die schweren Verbrechen des Faschismus bis heute weitestgehend verdrängt werden. 

Die zweite Gedächtnislosigkeit 

Haben aber dreißig Jahre des deutsch-deutschen Dialogs keine Spuren hinterlassen, ist man sich nicht nähergekommen? Zumindest Defizite habe es beim deutsch-deutschen Zusammenwachsen gegeben, meint Géraldine Schwarz, die für das französische Fernsehen einen Dokumentarfilm über die Nachwendezeit gemacht hat. Die Nachwendezeit bezeichnet sie folglich auch als „zweite Gedächtnislosigkeit“. Denn in drei Jahrzehnten habe die Deutsche Einheit eines nicht hervorgebracht: eine gemeinsame Erinnerungskultur. Die Erwartung im Westen sei es gewesen, dass die wirtschaftliche Freiheit die politische und gedankliche Freiheit in der ehemaligen DDR automatisch mit sich brächte. „Im Westen hat man nach der Wende zwar einen wissenschaftlichen Blick auf die DDR gerichtet und beispielsweise den Alltag der Menschen in der DDR erforscht“, erklärt Schwarz. „Aber dieses Wissen ist nicht im kollektiven Bewusstsein verankert.“ Den Erfahrungen und Erinnerungen der Ostdeutschen sollte daher mehr Platz eingeräumt werden, denn bisher hat man sich im Westen nicht genug dafür interessiert. Es fehle bis heute, so schlussfolgert sie, an Empathie. 

„In drei Jahrzehnten hat die Deutsche Einheit eines nicht hervorgebracht: eine gemeinsame Erinnerungskultur"

Géraldine Schwarz

Den Blick für Unterschiedlichkeit schärfen

Im November 2019 jährt sich der Mauerfall zum 30. Mal. Kinder, die im vereinten Deutschland geboren wurden, sind nicht nur längst volljährig, sondern mitunter schon selbst Eltern. Von westdeutschen, ostdeutschen – oder gesamtdeutschen Kindern? Unterschiede in Ost und West sind auch in den Generationen X und Y spürbar. Nicht nur im Wahlverhalten. Um diese Unterschiede zu verstehen, müsse man sich vor Augen führen, sagt Schwarz, dass die Erfahrungen der Elterngeneration auch in der Nachwendegeneration nachwirkten. „Man unterschätzt häufig, dass Traumata innerhalb Familien erblich sind.“ Neben den verschiedenen Prägungen gibt es aber heute noch in vielerlei Hinsicht ein großes Ungleichgewicht: Schaut man auf die Standorte von Bundesbehörden und Konzernen oder die Besetzung von Präsidiumsämtern an Universitäten sind Ostdeutsche deutlich unterrepräsentiert.

Auch in den Medien spiegelt sich dies wider: „Die Berichterstattung ist auch 29 Jahre nach der Wende noch immer eine westdeutsche Berichterstattung“, sagt die Journalistin und ze.tt-Chefredakteurin Marieke Reimann in einem Videobeitrag auf ze.tt, in dem sie die in ihren Augen mehrheitlich undifferenzierte Berichterstattung über Ostdeutschland kritisiert. Ein Beispiel: das SPIEGEL-Cover von August 2019, auf dem ein schwarz-rot-goldener Anglerhut zu sehen ist. Die zugehörige ironisch-provokative Überschrift: So isser, der Ossi. Noch immer würden „Ossis“ häufig als homogene Masse präsentiert – etwas weniger modern und etwas weniger klug als ihre westdeutschen Nachbarn, meint Reimann in ihrem Beitrag. Sie zitiert eine Studie des MDR von 2018, die zeigt, dass Begriffe wie „abgehängt“ und „Problem“ seit Anfang der 2000er Jahre Konjunktur in der Berichterstattung über Ostdeutschland haben. Reimann, selbst 31 Jahre alt und in Rostock geboren, zieht auch in einem Interview mit dem Deutschlandfunk eine ernüchternde Bilanz: Die Berichterstattung in den letzten 30 Jahren über den Osten habe den Abbau der Mauer in den Köpfen verhindert“. Auch Schwarz kritisiert die problembehaftete Berichterstattung. Um ein differenzierteres Bild vom Osten zu schaffen, sollten Medien in ihren Augen auch die Geschichten erzählen, die im Narrativ des abgehängten Ostens häufig zu kurz kommen: Erstens vergesse man zu oft, dass viele Ostdeutsche im Westen wohnen und sich überhaupt nicht mit den „Wutbürgern“ im Osten identifizieren. Zweitens habe sich die Zivilgesellschaft im Osten in den vergangenen 30 Jahren gut entwickelt. „Große Teile der Gesellschaft sind auf keinen Fall einverstanden mit der AfD. Die Medien sollten Ihnen, ihren Demonstrationen und Initiativen viel mehr Platz einräumen.“ Reimann geht noch einen Schritt weiter – nicht nur andere Geschichten müssten erzählt werden, sondern auch, wer sie erzählt spiele eine Rolle. Deshalb fordert sie eine Quote für Ostdeutsche in den Medien.

Einheit in der Verschiedenheit?

Das bisherige Wahljahr 2019 war bewegt. Die gute Nachricht: Menschen nehmen Anteil an dem, was um sie herum geschieht, mischen sich ein. Karl-Rudolf Korte bilanziert: „Leidenschaft für Politik nimmt ebenso zu wie Interesse.“ Dies bietet, meint der Wahlforscher, eine Chance, auch im Umgang mit den Neuen Rechten: „Je mehr wir wieder lernen, offensiv mit ihnen zu diskutieren, desto mehr stärkt sich die politische Mitte.“ Auch Schwarz plädiert dafür, die Konfrontation mit rechten Positionen zu suchen, um ihren Opfermythos außer Kraft zu setzen: „Populisten haben nichts anzubieten außer der Kritik. Sie haben keine Lösungen parat. Da sollte man nachbohren.“

Im Jahr 2019 können wir feststellen: Es gibt viele Dinge, in denen wir verschieden sind. Einige Unterschiede verlaufen entlang von Ost und West, doch es gibt noch viele weitere Ebenen – divergierende politische Überzeugungen, Erfahrungen in der Stadt und auf dem Land, zwischen Jung und Alt, Alteingesessenen und kürzlich Eingewanderten. Karl-Rudolf Korte zufolge geht es darum, ins Gespräch zu kommen und Gemeinsamkeiten auszuhandeln: „Wo endet das gemeinsame Wir? Nur wer sich diese Frage diskursiv aktiv stellt, kann heute Zugehörigkeiten herstellen. Die Frage muss nicht nur diskutiert, sondern in Parlamenten auch verbindlich verhandelt werden. Das sichert Loyalitäten und schärft das Gemeinwohl.“ Die Grundlage dafür können wir alle schaffen, indem wir uns den vermeintlich anderen zuwenden – mit Neugier und Offenheit. 

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