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Wie viel Zeit haben wir wirklich, Marc Wittmann? 50 Minuten mit einem Zeitforscher

Podcast von Sabine Lorenz

Marc Wittmann ist Forscher für Zeitwahrnehmung und Zeitbewusstsein. Im Interview mit Sabine Lorenz erklärt er, warum Zeit unterschiedlich wahrgenommen wird und wie wir Zeiterleben messen können.

Transkript

INTRO: Wer die Gesellschaft verändern will, muss sie erreichen. Aber wie geht das eigentlich? Und was muss sich ändern? In diesem Podcast sprechen wir über Ideen und Themen, die uns inspirieren und die etwas bewegen. Jede Staffel neu, mal mit Gästen im Dialog und mal ganz anders. Das ist sprich!, der Podcast von neues handeln.

Sabine Lorenz: Hallo und herzlich Willkommen zur dritten Staffel von sprich!. Mein Name ist Sabine Lorenz und ich beschäftige mich in dieser Staffel mit dem Thema Zeit. Heute spreche ich dazu mit Marc Wittmann. Er ist Experte, wenn es um unser subjektives Zeitempfinden geht. Er forscht am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg und hat bereits mehrere Bücher zum Thema Zeit veröffentlicht. Herr Wittmann, Sie beschäftigen sich ja sehr viel mit diesem subjektiven Zeitraum von Menschen. Was bedeutet das denn ganz genau? Was kann man darunter verstehen? Heißt das wirklich, dass wir alle individuell Zeit ganz unterschiedlich wahrnehmen?

Marc Wittmann: Ja, es gibt ja verschiedene Weisen der Zeitwahrnehmung. Es gibt nicht die eine Zeitwahrnehmung, und diese verschiedenen Weisen beziehen sich auch auf verschiedene, man könnte sagen Zeitskalen, Zeitdauern. Weil zum Beispiel einmal könnte ich sagen okay, wie erlebe ich die Zeit, den Zeitverlauf im Momentvergehen. Also es kann sein, wenn ich jetzt auf den Bus warte und ich habe einen dringenden Termin und dann bin ich mir selbst und dieses Zeitverlaufes ist sehr bewusst. Oder aber ich kann mich auch beziehen auf andere Dinge, so dieses alle, was wir alle kennen. 'Mensch, jetzt ist schon wieder Weihnachten' oder 'Jetzt muss ich schon wieder die Steuererklärung abgeben'. Es ist also schon wieder ein Jahr vorbei. Dann reden wir also von einem Jahr. Also dass ich ein Jahr überblicke und dort darüber ein Urteil abgebe, wie schnell oder langsam dieses Jahr vergangen ist. Es kann auch noch existenzieller werden, wenn ich plötzlich irgendwie merke 'Oh, jetzt bin ich schon so alt geworden' und blicke auf ein längeres, jahrzehntelanges Leben zurück. Und da haben wir diese Spannungsbreite von verschiedenen Gefühlen, die sich so auf unterschiedliche Zeitskalen im Moment, gerade jetzt eben oder auch so Jahrzehnte erstrecken können.

Sabine Lorenz: Und wie funktioniert das dann konkret? Oder kann man das konkretisieren, wodurch wir dieses Zeitgefühl entwickeln und wie wir auch vielleicht körperlich Zeit wahrnehmen?

Marc Wittmann: Man könnte sagen, dass eine schöne Unterscheidung, mit der man beginnen kann, ist vielleicht, dass man sagt, dass wir entweder die Zeit im Moment erleben oder im Rückblick Zeit Eben. Das im Moment Erleben ist sehr stark abhängig von der Aufmerksamkeitssteuerung. Also achte ich auf die Zeit, dann vergeht sie üblicherweise langsamer. Bin ich abgelenkt von der Zeit, vergeht sie schneller. Also wenn ich auf die Zeit acht, ist es meistens so ich bin in Wartesituationen vielleicht oder Situationen der Langeweile. Ich bin nicht abgelenkt von mir und der Zeit und dann vergeht sie langsam.

Jetzt aber in einer interessanten Konversation, oder wenn ich einen spannenden Film schaue, achte ich gar nicht auf die Zeit oder auch so im Flow der anregenden Tätigkeit. Und dann vergeht die Zeit ganz schnell. Warum? Weil ich nicht auf die Zeit achte. Und die Frage ist natürlich, was heißt das: Aufmerksamkeit auf die Zeit? Damit ist natürlich nicht gemeint, dass ich jetzt immer die Uhr anschaue, denn selbst wenn wir keine Uhren hatten, die Menschen hatten im größten Zeitalter keine Uhren und trotzdem hatten sie auch ein Gefühl für den Zeitverlauf. Und das heißt, da ist dann eine Antwort, dass wir vielleicht über unser Körperselbst diesen Verlauf von Zeit gegenwärtig wahrnehmen. Warum wieder? Weil das ist ja, worauf achte ich, wenn ich auf die Zeit achte? Da gibt es nichts, was ich sehe oder höre, aber vielleicht, was ich spüre, denn ich kann ja zum Beispiel meine Augen schließen. Ich kann meine Ohren verstopfen und trotzdem nehme ich die Zeit war oder gerade dann nehme ich die Zeit war. Warum? Weil ich dann über die Körpersignale immer noch einen Verlauf, eine Veränderung spüre von meinem Körperselbst.

Sabine Lorenz: Das heißt, in Situationen, in denen ich wenig Ablenkung habe, nehm ich Zeit bewusster wahr, weil ich meinen Körper bewusster wahrnehme, weil ich auch nicht davon abgelenkt bin, meinen Körper wahrzunehmen. Habe ich das gerade richtig verstanden?

Marc Wittman: Ja, man kann und kann es genauso ausdrücken. Also ich mein, es wird einem nicht unbedingt bewusst, dass es die Körperlichkeit ist, aber man hat eine Körperrepräsentation ja ständig und ständig kommen Körpersignale hinein und manchmal nehmen wir nur etwas wahr über die Emotionen, also Körpersignale über die Emotionen wahr. Weil ich jetzt zum Beispiel irgendwie nervös bin 'Ja, kommt denn jetzt der Bus? Ich muss jetzt zu diesem Meeting'. Und dann bemerke ich meine Nervosität. Die Nervosität ist natürlich auch körperlich vermittelt durch verschiedene Prozesse. Und dann nehme ich die Emotion wahr, die vermittelt ist über unser Körperselbst. Ich bin bemerke mich selbst und fokussiere auf mich selbst. Und darunter liegend haben wir das dieses Selbst so als Wahrnehmung. Aber darunter liegend ist natürlich unser Körperselbst auch gemeint. Und darüber vermittelt können wir die Zeit wahrnehmen.

Es ist natürlich jetzt so umgangssprachlich und alltagspsychologisch einsichtig, aber es gibt natürlich dazu auch so neuropsychologische Befunde, die das zeigen. Also ich habe zum Beispiel, und viele Kollegen dann nach mir auch, gezeigt, dass wenn Menschen Zeitdauern einschätzen müssen, vor allem von mehreren Sekunden, also nicht so ganz kurze Zeitintervalle, sondern wirklich so von mehreren Sekunden, wo man wirklich dann auch die Zeit und sich selber spürt, dass da eine ganz bestimmte Region im Gehirn aktiviert ist, nämlich die Insular. Insular ist ein schöner Name, das ist lateinisch für die Insel und das ist eine Soparik im Kortex angelegte Gehirnstruktur, die für die Interozeption zuständig ist. Was ist Interozeption? Das ist unsere Körperwahrnehmung, also die Körpersignale, die im Gehirn ankommen, die uns über den Zustand des Körpers etwas sagen, ob uns kalt ist, ob uns heiß ist, ob wir hungrig sind, durstig, ob wir Schmerzen haben, ob es irgendwie juckt oder was auch immer. Oder auch einfach, wenn wir zum Beispiel unseren Atem spüren oder unser Herz spüren. Das sind Signale aus dem Körper, die in der Insular aufgefangen werden und die Insular quasi hat sich als Hauptorgan auch für die Zeitwahrnehmung jetzt gezeigt, in verschiedenen Studien, auch in Metaanalysen, also wenn man verschiedene Studien zusammennimmt und das ist natürlich jetzt der neuronale Beweis oder der neuronale Nachweis darüber, dass unser Körperselbst etwas mit der Zeitwahrnehmung zu tun hat.

Sabine Lorenz: Das ist total spannend. Auch diese Insular, dass hab ich gelesen, dass es die gibt und dass die so viel steuert. Ich hätte die Frage dazu, das kann man bestimmt gar nicht so leicht zusammenfassen, aber wie sehen denn solche Untersuchungen aus? Also wie haben Sie, haben Ihre Kollegen dann rausgefunden, dass es diese Insular gibt oder wie kann man erforschen, wie sich Zeitempfinden anfühlt für unterschiedliche Personen?

Marc Wittmann: Also gut, dass es die Insular gibt, ist natürlich ein neuroanatomisches Wissen. Das weiß man schon seit langem. Also was ich damals gemacht habe: Ich war fünf Jahre in San Diego an der UCSD und war da im Department für Psychiatrie und ich ging davon aus, so Untersuchungen zu machen über Impulsivität und das war eigentlich mein Beweggrund, warum ich auch die Zeitwahrnehmung untersucht, weil man kann sagen, Impulsivität ist ja so etwas, so ein Zustand oder auch eine Persönlichkeitseigenschaft, die definiert ist davon, dass man nicht warten kann, das bedeutet ja quasi Impulsivität: Ich kann nicht warten. Das heißt für viele Menschen mit Impulsivität, die erleben die Zeit als langsamer verlaufend oder sie überschätzen Zeitdauern sehr häufig ein. Und deswegen hatte ich dann die Idee, das tatsächlich mal einschätzen zu lassen und Personen, um dann später auch impulsive Personen zu testen. Und in einem ersten Durchgang nahm ich klassisch einfach die studentische Population, die man leicht bekommen kann und habe die untersucht im Scanner, im FMRT. Und mit diesem FMRT, also funktionelle Magnetresonanztomographie, habe ich die Leute im Scanner gehabt, um die Hirnaktivität, also indirekt die Gehirnaktivität zu messen. Und ich spielte ihnen Töne von bestimmter Dauer vor, die nach einer gewissen Zeit beendet waren. Das war de facto drei 3, 9 und 18 Sekunden. Und dann gab es eine kurze Pause und dann ging wieder ein zweiter Ton los und diesen zweiten Ton sollten die Versuchspersonen per Knopfdruck stoppen, wenn sie dachten, jetzt ist der zweite Ton genauso lang wie der erste. Ein klassisches Zeit-Reproduktions-Paradigma. Warum haben wir das so gemacht? Weil die Leute sind dann gezwungen, auf die Zeit zu achten, weil sie ja die genau wiedergeben sollen, diese Zeitdauer. Und dabei haben wir also zwei Phasen, die wir unterscheiden können. Nennen wir es mal die Engcodierungs-Phase: Ich höre also auf den Ton, den ich nachher reproduzieren soll. Und dann gibt es diese zweite Phase, der Ton erscheint wieder oder wird wieder zu hören und die Person drückt den Knopf. Und da zeigte sich dann, wie in der Insular gewisse Aktivität anstieg, die immer mit zunehmenden Intervall immer weiter anstieg bis zum Ende des Intervalls und dann brach es ab.

Und das war natürlich ein interessanter Hinweis, weil dann konnte man daraus schließen: Also je länger die Zeitdauer ist, desto mehr Aktivität in der Insular, also eine stetige Zunahme an dieser Aktivität. Und das konnte man dann so interpretieren, dass man sagt 'Oh, vielleicht kann ich über die Körpersignale die Zeitdauer sozusagen intern messen. Also je länger die Dauer, desto mehr Aktivität.

Und das war der allererste Befund. Es war so 2008, dass ich das untersuchte und dann publiziert 2010, der also auch zeigte, dass die Insular auf diese ganz spezielle Weise mit der Zeitwahrnehmung verbunden ist. Und dann natürlich die Interpretation: Was ist die Insular? Die ist der interozeptive Cortex, hat das mit Körperwahrnehmung und auch mit Emotionalität zu tun und über die Emotionalität kommen wir ja wieder ganz leicht zu Zeitwahrnehmung, weil wenn wir in verschiedenen emotionalen Zuständen sind, kommt es dann zur Zeitstreckung oder wir vergessen die Zeit und die Emotion.

Die Zeit wird quasi moduliert durch unsere Emotionen, wieder basierend auf unseren Körperwahrnehmungen.

Sabine Lorenz: Spannend: Und genau dazu hab ich auch eine Frage, wie Emotionen dann eben im Körper auf unser Zeitempfinden einwirken. Weil das ist ja tatsächlich so, dass es Situationen gibt, ich erinnere mich an meine Hochzeit, die ist für mich so verflogen, ich dachte danach 'okay, jetzt ist es schon vorbei'. Das waren 24 Stunden. Und dann gibt es andere Situationen, die sich in die Länge ziehen ohne Ende. Das ist ja dann die Zeitwahrnehmung in diesem akuten, aktuellen Moment. Wenn man das dann aber so im Nachhinein betrachtet, dann fühlt sich das ja wieder oft anders an, dann habe ich ja durch diese schönen Sachen, an die ich mich zurückerinnern kann, fühlt sich dann gerne mal ein Jahr irgendwie besonders lange oder abwechslungsreich an und für mich länger an als so ein Jahr, das standardmäßig sehr aus Routinen bestand.

Marc Wittmann: Sie sprechen zwei verschiedene Punkte an. Das eine ist das Zeit-Paradox also, dass ich im Moment ein Erlebnis haben kann, eine Erfahrung mache und da denke ich, 'Oh, das ist jetzt aber schnell vergangen'. Und dann rückblickend habe ich aber das Gefühl 'da ist so viel passiert', es ist jetzt doch viel länger oder umgekehrt. Im Moment zieht sich zäh so dahin und ich denke 'Oh, hört es denn nie auf?' Und dann aber im Rückblick, weil nicht viel passiert ist, ist es doch wieder schnell vergangen. Also das ist dieses Zeit-Paradox, dass wir durch die unterschiedlichen Zeitperspektiven zu unterschiedlichen Urteilen kommen können. Also klassisch: Du bist im Zahnarzt-Wartesaal, dein Handy hast du nicht aufgeladen gehabt, also du kannst dich nicht ablenken und es zieht sich hin. Aber im Rückblick dann, weil nichts passiert ist, hast du auch nichts in der Erinnerung. Und dann ist die Zeit doch wieder schnell vergangen. Das zeigt auch jetzt zum Beispiel, dass im Rückblick, wenn ich auf die Zeit achten soll und wenn ich ein Urteil über Zeitintervalle abgeben soll, dass da Gedächtnis-Inhalte wesentlich unser Urteil von Zeit bilden. Also je mehr und je emotionaler, je vielfältiger, je abwechslungsreicher das ist, was ich abgespeichert habe im Gedächtnis, desto länger kommt mir ein Zeitintervall vor. Also wenn ich ein Wochenende irgendwie so versumpft habe, was ja auch manchmal schön sein kann, aber wenn ich dann rückblicke, ist wenig passiert und dann denke ich vielleicht auch 'Oh, das ist aber schnell vergangen'. Verglichen mit, sagen wir mal ein verlängertes Wochenende mit Freunden in einer neuen Stadt, wo ich noch nie war, wo wir die Stadt explorieren und viel Spaß haben. Und wenn ich dann zurückschaue auf dieses Wochenende, dann kommt es unglaublich lange vor. Warum? Weil ich so viel Gedächtnis-Inhalte parat habe. Und das führt dann zu dieser Zeitdehnung. Das heißt Monotonie, Gleichförmigkeit der Erlebnisse im Alltag führen zu einer Verkürzung der Lebenszeit letztendlich und abwechslungsreiche, emotionale Ereignisse in meinem Leben führen zu einer Streckung von Lebenszeit.

Sabine Lorenz: Musste gerade grinsen, weil ich heute beim Zahnarzt saß und mir es genauso ging. Ich dachte das kann doch nicht sein, wie lange muss ich hier sitzen.

Marc Wittmann: Aber sie hatten ihr wahrscheinlich ihr Handy geladen. Sie konnten da rumspielen.

Sabine Lorenz: Genau dazu möchte ich später nämlich auch noch eine Frage stellen. Zum Thema Handy. Können wir denn dann unser Zeitempfinden beeinflussen? Wenn wir das wissen, dann erschließt sich das ist, glaube ich, das, was Sie mit dem Paradoxon meinen, jetzt kommt die Frage auf: Okay, was ist dann jetzt besser für mich, dass ich versuche, meine Zeit mit möglichst viel abwechslungsreichen Dingen zu füllen, um danach mich an sehr viel erinnern zu können. Ich glaube, dass gleichzeitig aber gerade sehr viele Menschen dazu tendieren, ihre Zeit viel zu sehr mit dem zu füllen und dadurch wieder in Zeitnot geraten. Oder ist es das weniger tun, achtsamer sein aber dadurch habe ich vielleicht in der Erinnerung ein schnelleres Jahr.

Marc Wittmann: Ja, also Sie sprechen einen wichtigen Punkt an, weil ich würde auch sagen, allein nur die Menge an Ereignissen, wenn wir da so durchgetaktet sind, hilft uns auch nicht, dann im Nachhinein das Gefühl eines längeren Lebens zu haben. Man kann sich vorstellen, irgendwann Samstag, denen ich eigentlich frei habe, ist auch schon wieder durchgetaktet mit einkaufen gehen, dann muss ich Kinder zum Klavierunterricht bringen und dann die Radel-Tour machen und dann am Abend ins Theater gehen und und dann ist man auch schon wieder so im Modus des Alltags oder des Arbeitstages, wo man wieder eins nach dem anderen durchführt, aber dann doch wieder alle Dinge relativ schnell und in großer Hast durchführt.

Und dann sind die Erlebnisse aber auch nicht mehr so profund oder nicht mehr so tief, die abgespeichert werden, weil ich doch wieder in so einem getaktet in hat bin. Das heißt, es geht darum, dass man Dinge tut und diese auch wirklich intensiv tut, kann man natürlich auch dieses Wort achtsam benutzen. Das ist ein deutsches Wort, das es schon lange gibt, dass ich etwas besonders mit Aufmerksamkeit tu und aber auch Dinge tun, die mich emotional bewegen.

Und das sind natürlich auch Dinge, die dann tiefer abgespeichert werden, weil sie mich betreffen und bewegen und so ich eine so einen Alltag sozusagen im Nachhinein wirkt, länger erlebt, weil ich mehr Dinge intensiv erlebt haben, abgespeichert, emotional, aber auch im Moment, wenn ich die Dinge eben jetzt nicht so so mit Termin orientiert irgendwie abarbeite in meiner Freizeit, dann erlebe ich die Dinge auch im Moment als langsamer Vergehen, weil ich ja im Moment auch immer wieder innehalten kann und auch zurückschauen kann über das gerade Erlebte.

Und so kann ich in beiden Bereichen, also das Ich im Moment, was ich erlebe und auch rückblickend das Gefühl haben, eines schönen, langsam vergehenden Lebens.

Sabine Lorenz: Das ist die Kunst vermutlich auch des erfüllten Lebens. Dass man lernt, gut und sinnvoll mit seiner Zeit umzugehen und einerseits im Moment zu leben, aber die Zukunft ja auch nicht so ganz zu vergessen.

Also das ist, glaube ich, immer dieser schwierige Mittelweg, den man da finden muss, dass man natürlich auf Ziele zusteuert und was erleben möchte, auch planen möchte für seine Zukunft und gleichzeitig im Hier und Jetzt eigentlich sehr verankert sein möchte oder auch soll, um auch so eine Entspannung oder auch das Thema in den Flow kommen, so dass das dann auch passieren kann.

Ich denke dann oft an Kinder. So eine Zeitwahrnehmung verändert sich ja auch mit dem Alter, so im Leben eines Menschen. Also zumindest sagt man es so daher. Je älter man wird, umso schneller vergeht die Zeit. Und ich sehe das dann selbst an meinen Kindern. Die kennen kein Morgen so, die leben nur im Hier und Jetzt. Wodurch entsteht das dann?

Marc Wittmann: Dieses Gefühl, dass die Zeit immer schneller vergeht, je älter wir werden, das hat bestimmt was auch wieder mit diesem Zeitgedächtnis zu tun, denn ich muss jetzt einmal das letzte Jahr oder auch in meiner Forschung hat sich gezeigt, dass vor allem die Frage die letzten fünf Jahre, die letzten zehn Jahre ganz sensitiv ist für diese Alterseffekte. Also da haben wir viele. Es gibt viel Forschung dazu, auch in verschiedenen Ländern mittlerweile, die es immer wieder zeigen, dass wenn man Menschen in der Altersspanne von Teenagern bis in die Neunziger hinein befragt, dass es da tatsächlich eine Zunahme des gefühlten Zeitverlauf ergibt, dass es immer schneller, immer schneller geht, je älter wir werden. Allerdings ist der Effekt nicht so groß.

Es gibt dann schon große Unterschiede zwischen den Menschen. Das heißt auch, Menschen können durch Selbststeuerung auch Einfluss nehmen. Aber es zeigt sich halt, wenn man zum Beispiel 500 Menschen befragt in verschiedenen Lebensaltern, dass schon auch rauskommt: Je älter die Menschen werden, desto schneller vergeht für sie die Zeit. Und es kann man dann durchaus so interpretieren, dass wieder durch den Routine-Effekt. In der Kindheit, im Jugendalter oder im frühen Erwachsenenalter sind so viele Dinge immer wieder neu, neu, neu, die erlebt werden, auch emotional neu erlebt werden. Und dann diese Neuartigkeits-Effekte werden natürlich besonders abgespeichert. Jetzt irgendwann mit 20 geht man zum allerersten Mal ins Ausland oder so und dann kann man sagen ja gut, da gehe ich doch jetzt immer ins Ausland, immer in den Sommerferien. Aber irgendwann ist man 20 Mal im Ausland gewesen und auch selbst da, wenn man sagt, ich möchte immer was Neues machen.

Irgendwo tut sich auch in dieser Neuartigkeit, diesem Versuch der Neuartigkeit auch wieder Routine einspielen. Das heißt, wir können dem fast gar nicht entfliehen, dass so eine gewisse Routine, Monotonie eintritt in höheren Lebensaltern. Können Sie sich auch vorstellen, sage ich mal jemand zwischen 14 und 18. Mit 14 ist er vielleicht noch so was, so ein Kind? Mit 18 ist er schon fast ein Erwachsener. In diesen selben vier Jahren, was da alles erlebt wird und auch entwicklungspsychologisch, entwicklungspsychologisch, was sich da verändert. Nehmen Sie mal diese vier Jahre zwischen 42 und 46, da zeigt sich ja schon, da kann sich gar nicht so viel getan haben zwischen in diesen vier Jahren. Man ist in diesen vier Jahren immer im selben Job gewesen, in derselben Stadt ist, immer zum selben Urlaubsort gefahren etc. hat diese Monotonie des Alltags durchgemacht. Da muss ja die Zeit subjektiv schneller vergangen sind als für einen 18-jährigen, der auf seine letzten vier Jahre zurückblickt.

Und so ist es natürlich dann auch später. Dann verlässt man das Elternhaus, geht in eine andere Stadt, macht eine Berufsausbildung, studiert, alles ist neu und neu, neu. Und diese Neuartigkeit sozusagen hat dann Effekt auf das Gedächtnis. Und das zeigt dann, warum dann im zunehmenden Lebensalter die Zeit auch immer schneller vergeht als Gedächtnis-Effekt. Aber es gibt dann immer wieder so Brüche.

Also ich habe das auch erlebt. Ich war dann auch Ende 30, als ich nach San Diego ging und dieses erste Jahr in San Diego war und ist auch jetzt noch repräsentiert so als unglaublich lange. Da habe ich so viele neue Eindrücke. Ein neues Land, neue Sprache, neue Jobs, neue Personen. Ich musste eine Wohnung finden, ein Auto etc. etc. Alles ist neu, neu, neu und deswegen ist es so in mir so ab gespeichert als ein ganz langes Jahr. Aber interessant auch dann die nächsten Jahre vergingen dann durchaus wieder schneller und dann sind die auch nicht mehr so repräsentiert. Zum Beispiel ein gewisses Ereignis weiß ich nicht mehr, war das jetzt zweiten Jahr oder im vierten Jahr meines Aufenthaltes, das kann ich gar nimmer so auseinanderhalten. Aber das erste Jahr ist so richtig auch auch in der zeitlichen Reihenfolge der Ereignisse intensiv repräsentiert. Das ist sozusagen ein Gedächtnis-Effekt durch die Neuartigkeit im Leben. Das zeigt also auch, zu einem gewissen Grade, kann man sich also auch immer wieder versuchen, neu zu positionieren im Leben und sei es auch nur so ein kleines verlängertes Wochenende mit Freunden oder aber auch tatsächlich so eine Neupositionierung, beruflich wie auch immer. Dass man dann wieder neue Erlebnisse hat und dann wieder zu einem in der Zeit-Streckung es kommen kann.

Sabine Lorenz: Ja, jetzt frage ich mich das gerade, ob so Diplomaten, die alle fünf Jahre in einem anderen Land leben, vielleicht fühlt sich für die das Leben länger an oder gefüllter zumindest an, als für jemanden- Ich bin jetzt seit 20 Jahren in Köln, vielleicht müsste ich mal über eine Veränderung nachdenken, dass ich das Gefühl habe, wieder mehr Zeit in meinem Leben zu haben. Das ist ja so eine andere Sache. Also auch das hatte ich mich noch gefragt. Wir haben über Jugendliche, Erwachsene gesprochen, Jugendliche erleben wahnsinnig viel, aber die haben ja auch gar kein Problem damit, einfach nur mal abzuhängen und zu chillen und sich auszuruhen und so ein Sonntag oder Samstag, Samstag und Sonntag sein zu lassen, während ich das Gefühl habe, dass es doch sehr viele Menschen gibt, die, wenn sie mal Zeit finden, die sich wieder mit den mit neuen Erlebnissen füllen, wie wir das gerade besprochen haben. Woran liegt das dann? Ist das dann vielleicht das unterbewusste Verlangen fast danach, sich diese Erinnerungen zu schaffen und sich die Zeit dadurch zu verlängern

Marc Wittmann: Dieses Chillen der Jugendlichen ist, glaube ich, so eine. Etwas, dass vielleicht die Erwachsenen höherer Lebensalter, das heißt aber wahrscheinlich 25 plus auch schon je nachdem 30 plus je nach individueller Autobiografie, was man gerade macht, wie man eingebunden ist in die Lebensentwürfe, ist, glaube ich, etwas, das man schon in der Kindheit, Jugend hat, nämlich dieses unglaubliche Präsenzgefühl, jetzt im Moment zu sein. Und das ist natürlich auch etwas, was man vielleicht über das Erziehungssystem eigentlich so bisschen aberzieht den Kindern und Jugendlichen. Denn das typische Erlebnis, die Mutter, der Vater ruft runter in Garten essen kommen und dann sagen die gleich und dann aber passiert nichts, sie kommen nicht. Warum? Weil die sind so im Spiel, ja fast schon so absorbiert, dass diese Zukunftsaussicht jetzt müssen wir essen kommen schon gleich wieder vergessen ist, weil mal wieder in diesen Gegenwarts-Moment drin ist und alles um sich herum vergisst. Und das ist natürlich ein schöner Zustand, den die Erwachsenen vielleicht gar nicht mehr so leicht herbekommen, weil wir so umerzogen worden sind, immer so eine Zukunftsperspektive einzunehmen. Ist ja auch klar, ist ja wichtig, weil wir lernen, Termin-orientiert zu leben, ist ja in unserer Gesellschaft wichtig. Würden wir nicht Termin-orientiert leben, würde ja alles in Chaos zerfallen. Also wir haben uns jetzt auch um 11:00 hier getroffen, nicht irgendwann. Nicht irgendwann nach Sonnenaufgang treffen wir uns dann hier online, sondern um genau 11:00 waren wir beide hier in diesem Online-Forum und das zeigt natürlich, dass wir alle zukunftsorientiert sind, Termin-orientiert sind, Uhrzeit-orientiert sind, während dann Kinder und auch Jugendliche dann immer noch diese Fähigkeit haben, so unglaublich Gegenwarts-orientiert zu sein.

Jetzt ist es genauso so ein Spannungsfeld. Diese Zukunftsorientierung ist natürlich auch wichtig. Will ich Erfolg im Leben haben, weil ich möchte ja über eine Berufsausbildung oder ein Studium möchte ich ja sozusagen in eine Zukunft investieren, in der ich interessanten Job dann haben. Also umgekehrt, wenn ich immer nur Gegenwarts-orientiert bin und impulsiv meinen Launen nachgehe, dann ist es im Moment vielleicht kurzfristig befriedigend, aber langfristig bringt es mir nichts. Ich habe die Hausaufgaben nicht gemacht, kriege schlechte Noten und kann dann irgendwie keinen Job, der mir Erfüllung bringt, antreten. Das heißt, wir haben immer dieses Spannungsfeld, aber andererseits bin ich jetzt zu sehr zukunftsorientiert, verliere ich auch wieder so eine Gegenwarts-Orientierung, die ich auch brauche, um mein Leben zu leben und glücklich zu werden. Das heißt diese eine hedonistische Gegenwarts-Perspektive und eine Termin-orientierte Zukunftsperspektive, da müssen wir so schon eine gute Balance finden. Und es zeigt sich durchaus auch in meiner Forschung so diese balancierte Zeit-Perspektive ist die, die nicht nur die Leute am erfolgreichsten werden lässt, sondern auch wenn man so will, glücklichsten macht, die sind am zufriedensten, wenn sie so eine Balance zwischen beiden haben. Also nicht zu sehr ausschließlich Zukunftsperspektive, nicht zu sehr ausschließlich hedonistische Zeitperspektive, sondern so ein bisschen zukunftsorientiert, aber auch ein bisschen hedonistisch zukunftsorientiert und vor allem wichtig, zu wissen, wann man die Zukunftsperspektiven wechseln kann. Das ist das Wichtigste, dass ich mal sagen kann okay, jetzt muss ich bis zur Prüfung mich hinsetzen auf den Hosenboden und lernen. Aber danach kann ich Party machen. Und das ist genau das Wichtige, das richtige Maß finden. Wann kann ich was tun, um dann erfülltes Leben zu haben?

Sabine Lorenz: Da glaube ich auch, dass wenn man jetzt noch mal auf Corona zurückblickt, dass das so ein bisschen für viele das ganz Schwierige war, also genau diese Balance zu finden, das war plötzlich so außer Kraft gesetzt. Man konnte gar nicht mehr seine Zeit mit den Dingen füllen, die einem Freude machen oder die einem das gute Gefühl bringen. Sondern es war ja plötzlich so: Die einen haben es genossen, dass plötzlich keine Termine da waren und plötzlich so viel Zeit für ein Selbst da zu sein schien. Andere, Eltern, berufstätige Eltern hatten plötzlich gar keine Zeit mehr für irgendwas. Das hat das wirklich alles komplett durcheinandergewirbelt, glaube ich. Diese Balance, die man so für sich gefunden hatte, musste jeder noch mal so ein bisschen nachjustieren und noch mal neu finden.

Marc Wittmann: Ja, es gibt einen schönen Begriff, der sich eingeprägt hat in der Zeit: Blurrsday. Also Englisch. Statt Sunday, Monday, Tuesday, everyday is Blurrsday. Also jeder Tag verschwimmt so, er ist leer. Und warum? Früher hat man am Sonntag einen Ausflug mit der Familie gemacht und hat Freunde getroffen und vielleicht irgendwie gegrillt oder so zusammen. Und am Montag hat man dann ein stressiges Meeting in der Arbeit gehabt und ist dann am Abend zum Fußballspielen gegangen. Und so ist jeder Tag so definiert gewesen durch so eine Einzigartigkeit, die auch wieder sage ich mal so, das Gefühl von Zeitdauer oder Zeit-Erstreckung gebildet hat, weil die einzelnen Tage so akzentuiert waren. Jetzt ist es plötzlich alles weggefallen ist. Jetzt war ich immer zu Hause. Jeder Tag ist der gleiche und tatsächlich hat sich gezeigt, dass die Menschen, die relativ zufrieden waren, natürlich ein bisschen Stress gefühlt haben, aber trotzdem immer durch diese häusliche Monotonie in der Rückschau dann fühlten:

Oh, die Zeit ist so schnell vergangen. Es gab verschiedene Studien aus ganz vielen verschiedenen Ländern, auch so eine weltumspannende Studie, die gezeigt hat, Menschen, denen es einigermaßen gut ging, aber diesen Blurrsday-Effekt spürten, für die verging die Zeit viel schneller als sonst, also der letzte Tag, die letzte Woche. Aber für die Menschen, die dann durchaus darunter gelitten haben, weil sie zum Beispiel isoliert waren, kann man sich ja auch vorstellen, alleine, wenn du eine kleine Einzimmerwohnung hast, bist dann in Quarantäne sozusagen, in diesem Lockdown und hast niemand, oder aber du bist mit Menschen zusammen in einer engen Wohnung, wo du nicht glücklich bist, das kann sehr viel Stress verursachen. Für diese Leute ist die Zeit langsamer vergangen, weil sie durch diese Emotionalität immer wieder auch an die Zeit denken mussten und das heißt, 40 % der Menschen, kann man sagen ungefähr, haben gefühlt, dass die Zeit langsamer verging und 40 % haben ungefähr gefühlt, dass die Zeit schneller vergangen ist und 20 % dann eben, dass es weder schneller, noch langsamer vergangen ist. Es hat sich über viele Länder so gezeigt.

Sabine Lorenz: Spannend. Auch, dass es so international relativ ähnlich ist. Dieses Blurring hat mich nochmal zu einem Thema gebracht, über das ich gerne sprechen wollte kurz noch. Gerne spricht man von Work-Life-Blending, da muss ich jetzt gerade dran denken, dass das so unter diesem ganzen New Work-Gesichtspunkt. Es wird ja immer mehr so, dass gerade jetzt die Bürojobs unsere Denker-Jobs, dass es das auch viel mehr verschwimmt miteinander und ineinander übergeht, dass wir eigentlich gleichzeitig gerade noch beim Zahnarzt, danach wieder ins Büro, den Termin, jetzt nehmen wir den Podcast auf, danach hole ich meine Kinder und dann arbeite ich wieder. Also ja gerade diese Struktur und das, was Tage zu etwas besonderem macht, wird ja tatsächlich auch so ein bisschen weniger im Moment, ist mein Gefühl auf jeden Fall.

Marc Wittmann: Ja und dann um 23:00 Uhr beantworten wir noch schnell fünf Emails, weil es ja dann wichtig ist, dass es schon gemacht ist, dann muss ich es morgen nicht machen und die Leute sind dann schon gleich aufmerksam auf meine Emails. Also es verschwimmt alles total und dann krieg ich um 00:00 noch mal irgendwie eine ekelhafte Email von irgendeinem blöden Kollegen und dann kann ich wieder nicht schlafen. Und das ist sozusagen, dass wir diese Phasen, die wir sonst immer hatten, also früher hatten wir so unsere acht Stunden, hatten die Menschen so acht Stunden Arbeit und dann konnten sie abschließen und dann hatten sie ihre acht Stunden Freizeit, bevor sie ihre acht Stunden Schlaf hatten. Diese tatsächlich schöne Drei-Phase-Lebenswelt ist ja jetzt völlig implodiert. Die gibt es nicht mehr, weil während der Arbeit machen wir jetzt Freizeit, während der Wartezeit machen wir Arbeit. Und das hat alles auch noch einen Einfluss auf unsere Schlafgewohnheiten und Schlafqualität. Und somit ist kann man auch sagen, so ein Blurr sozusagen über diese Phasen. Und das ist deswegen schlecht, weil wir können durchaus mit Stress sehr gut umgehen. Wenn wir zum Beispiel aber auch wissen, während dieser acht Stunden Arbeitszeit ist viel Stress und viel um mich herum. Aber ich habe dann meine acht Stunden, wo ich regenerieren kann drumherum. Dann gehe ich, wasweißich Squash spielen, gehe ich spazieren. Ich bin mit Freunden zusammen in der Familie zusammen, ich schaue ein Film an, ich lese ein Buch. Ich habe sozusagen diese Phase der Entspannung nach der Phase der Spannung und nachdem das jetzt aber alles so zerfällt und nur noch alles so ein bisschen gleich wird, gleichartig wird, haben wir nicht mehr diese Spannung-Entspannungs-Phasen. Und das hat durchaus einen negativen Einfluss auch auf Stress und auf Gesundheit, körperliche, mentale Gesundheit.

Sabine Lorenz: Interessant, weil es gleichzeitig ja auch Vorteile bringt. Es macht manches auch einfacher im Leben, dass man es parallel machen kann. Aber das ist auch noch mal ein großes Thema, wie man das richtig angeht, da gibt es ja auch viele verschiedene Ansatzpunkte und Meinungen dazu. Wozu es mich aber noch bringt, ist das Thema Multitasking. Ich genieße es sehr solche Podcast-Aufnahmen zu machen, weil es sind Momente, in denen ich voll und ganz mich nur auf eine Sache konzentriere und mir fällt immer öfter auf, dass es das in meinem Leben sehr wenig gibt. Wenn ich arbeite, dann mache ich wahnsinnig viel parallel. Dann ist mein Tag voll und ich bin eigentlich in dem Video-Call, aber schreib parallel bei Teams noch mal eine Nachricht und vielleicht antworte ich auch noch schnell auf eine Email und bin dann trotzdem sprechfähig und denke immer 'Wow'. Ich merke auch, ich kann meinen Kindern eine Geschichte vorlesen und ich mach mir Gedanken zu etwas ganz anderem, aber lese trotzdem diese Geschichte sogar mit emotionaler Betonung vor, aber nach so einem Arbeitstag, weil es ist ganz oft so, der ist dann gefüllt. Ich mache wahnsinnig viel, aber ich weiß nicht mehr, was ich gemacht habe, fällt mir dann oft auf. Was ist das denn für ein Effekt?

Marc Wittmann: Die Tiefe der Verarbeitung fehlt. Aus den 50er, 60er Jahren gab es diesen Spruch "Do one thing at a time", also tu immer nur eine Sache, aber die dafür richtig. Multitasking bedeutet nicht, dass man tatsächlich wirklich alles parallel machen könnte. Das passiert nicht. Man kann immer nur eine Sache machen. Aber Multitasking bedeutet, dass man zwischen den Dingen schnell hin und her die Aufmerksamkeit wechselt. Und da zeigt sich, dass man eigentlich, wenn man sich mit einer Sache beschäftigt, jetzt plötzlich wechselt, dass es eine gewisse Zeit braucht, bis man da wieder reinkommt in diese andere Tätigkeit.

Jetzt aber vielleicht muss man dann so, jetzt ist man gerade wieder in der Phase, man hat sich angepasst, ist wieder drin in einer anderen Tätigkeit, muss aber schon wieder rüber wechseln und braucht eine Zeit, bis man wirklich reinkommt in die Sache. Jetzt diese Wechsel sozusagen schaffen es, dass wir eigentlich nicht mehr die Dinge richtig tief verarbeitend unternehmen.

Und erstens machen wir die Sachen schlecht, wir machen sie schlechter. Hinterher merken wir häufig, 'Oh, was für ein blödes Email habe ich jetzt geschrieben', weil ich doch die ganze Zeit an was anderes gedacht habe. Die Excel-Kalkulation oder den Text, den ich geschrieben habe, sind dann oftmals sehr schlecht. Und das andere ist aber, was sie jetzt auch gesagt haben, man hat viel gemacht und ist so in diesem Hamsterrad. Dann rückblickend aber wieder, weil nichts tief, profund irgendwie erlebt wurde, ist die Zeit doch wieder schnell vergangen, weil ich nichts wirklich dann im Gedächtnis behalten habe. Im Gegensatz zu einer anderen Idealwelt, dass ich eine Sache tatsächlich mache, abschließe, dann etwas anderes beginne und abschließe. Das ist so die Idealwelt und dann würde man viel mehr auch Erinnerung an die Tätigkeit haben, weil man auch besser gearbeitet hat und mehr dann erinnert.

Sabine Lorenz: Ich wollte mit Ihnen unbedingt noch darüber sprechen, wie moderne Technologien unserer Zeitempfinden beeinflussen. Ich glaube, eine Sache haben wir jetzt aber gerade dann dadurch angeschnitten, weil das sind ja die Technologien, die uns das ermöglichen, dass wir so viel parallel machen. Das heißt, diese Parallelität, dadurch, dass die besteht und dass auch so eine gewisse Erwartungshaltung inzwischen gibt, dadurch, dass jeder diese Technologien nutzt und sein Handy zur Hand hat, nehmen uns diese Technologien dann die Chance auf, Dinge so wirklich gut wahrzunehmen Wie verändert sich unsere Zeitwahrnehmung noch durch diese neuen Technologien? Smartphones beispielsweise. Wir hatten es vor kurzem mit dem Wartezimmer.

Marc Wittmann: Für mich das schönste Beispiel, aber jeder kennt es natürlich: Smartphone als Zeit Killer. Es wird natürlich auch eingesetzt, um die Langeweile zu überwinden. Ja, die Wartezeiten existieren für uns gar nicht mehr. Sagen wir jetzt, ich warte auf den Zug oder ich stehe in der Schlange für den Kaffee, was auch immer oder auch im Bus.

Ich habe schon so eine fünf Minuten Busfahrt in die Innenstadt und da ist es so, dass 2/3 der Leute starrt ständig aufs Handy, obwohl es nur fünf Minuten sind, um dann zu diesem Endpunkt zu kommen. Das heißt, diese Leerzeiten, diese Wartezeiten existieren nicht mehr, weil man sich sich ablenkt, sich selber von sich ablenkt, weil man mit sich selbst langweilig ist. Es ist einem langweilig mit sich selbst. Und das ist natürlich auch etwas, was man leicht merkt, wie diese Selbstvergessenheit, weil ich auf dem Handy bin und da rumsurfe und Emails kontrolliere etc. oder die ganzen Medien benutze, bemerke ich mich nicht selbst und die Zeit vergeht wahnsinnig schnell. Ein unglaublicher Zeitkiller. Das ist mir so auch schon passiert, da habe ich irgendwie gedacht 'Oh, der Bus kommt erst in acht Minuten, ich warte noch ein bisschen hier, bevor ich runtergehe zur Bushaltestelle und auf einmal merke ich 'Oh, der Bus ist schon weggefahren'. Das ist und das ist genau dieses: die Zeit verschwindet wie im Nichts und aber dann auch, obwohl man vielleicht viel gelesen hat oder viel geschaut hat, ist eigentlich auch nichts in Erinnerung geblieben, weil wieder das selbe wie dieser Hast im Arbeitsalltag, dass man viele Dinge und Multitasking macht. Auch da wieder: Ich habe viele Dinge gesehen, aber gleich wieder weiter geblättert und nichts wird dann wirklich abgespeichert im Gedächtnis und sag ich mal diese Stunde so schnell vergehen kann, dadurch, dass ich im Web surfe, ist wie nix vergangen. Die Lebenszeit ist verschwunden. Was man natürlich auch sagen könnte, auch wenn es da jetzt nicht so viele Studien gibt, weil es schwierig ist, es mit früheren Zeiten zu vergleichen, ist halt, dass wir vielleicht auch immer mehr verlernen zu warten. Früher gab es natürlich auch Zeitungen oder man hat ein Taschenbuch in der Tasche gehabt, aber irgendwann ist die Zeitung ausgelesen. Aber die Information über das Handy geht natürlich nie aus und es kommt auch immer neue hinzu. Und natürlich ist es nicht nur die Information, die ich über Onlinezeitung habe, sondern es ist natürlich auch meine ganze persönliche Welt, die da integriert ist, sodass es ständige Veränderung gibt, die mich immer wieder locken, hineinzuschauen.

Und da könnte man sagen, weil ich das ständig in Wartezeiten, in leeren Zeiten benutze, habe ich vielleicht auch verlernt, einfach mal entspannt und ruhig nichts zu tun. Es ist vielleicht auch so eine Konsequenz, dass wir vielleicht jetzt auch insofern ein bisschen impulsiver werden.

Sabine Lorenz: Impulsiver im Sinne davon, dass wir es eigentlich nicht aushalten, wenn sich irgendwas in die Länge zieht und wir an der falschen Kasse stehen und wir, der Mensch vor uns im Auto viel zu langsam fährt. Ich habe mal von der Studie gehört, ich weiß leider nicht mehr, wo die her war, aber dass wir zum Beispiel auch sehr viel impulsiver, aggressiver reagieren, wenn wir das Gefühl haben, dass ein Mensch uns die Zeit raubt als eine Maschine. Da gab es irgendeine Studie, die das verglichen hat. Die haben Geldautomaten manipuliert, meine ich. Und der Automat hat nicht so richtig funktioniert. Und dann kam raus, dass die Deutschen- ich glaube, es war sogar eine internationale Studie. Wir Deutschen wir hatten sehr viel mehr Geduld mit dem Geldautomaten, der uns die Zeit geklaut hat, als mit der Kassiererin, die unserer Meinung nach zu langsam war oder der Person, die vor uns an der Kasse stand. Das fand ich auch interessant.

Marc Wittmann: Also der Fatalismus gegenüber der Maschine, weil man denkt, da kann man jetzt eh nichts machen. Aber ich weiß, mit einer Theory of Mind, ich kann in die Gedankenwelt des Menschen vor mir Einblick nehmen und denke jetzt, der könnte doch jetzt schneller machen, man könnte die Zeit anders erleben, wenn er schneller machen würde. Aber bei der Maschine ist man so fatalistisch, kann man eh nichts machen und dann ist man auch entspannter.

Sabine Lorenz: Ja und jetzt ist es ja so, dass diese Technologie, über die wir gesprochen haben, die machen gerade aktuell ja auch extreme Fortschritte und Sprünge will ich fast sagen. Wenn wir über die ganzen KIs und ChatGPTs und sonstigen Geschichten sprechen, die es jetzt gerade aktuell gibt, die zum Beispiel meinen oder auch unseren Beruf total ändern werden, da bin ich sehr sicher. Es wird alles nochmal schneller. Wie wird sich das dann auswirken, wenn wir einen Text, statt einen Text selbst zu schreiben, wofür wir vielleicht einen Tag brauchen, weil wir recherchieren, wir setzen uns hin, wir überlegen uns, wie sich Sätze schön anhören und wie wir das gut zusammenfassen können. Und jetzt haben wir so einen Text vielleicht in drei Minuten und gehen noch mal drüber und verbessern ihn so ein bisschen.

Marc Wittmann: Da haben wir wieder denselben Effekt, von dem wir jetzt ein paar Mal in verschiedenen Kontexten gesprochen haben. Wieder haben wir keine Verarbeitungstiefe, weil wir gar nicht verstehen, was der Text am Ende aussagen soll. Denn ich habe, wie Sie gesagt haben, ich habe einen Tag recherchiert, ich bin online gegangen, habe alte Zeitungen durchgeschaut, ich habe sogar ein echtes Buch in die Hand genommen, einen wissenschaftlichen Artikel gelesen, habe darüber nachdenken müssen, wie ich diese Dinge integrieren kann und habe mich einen Tag damit beschäftigt. Und dann weiß ich die Sache aber auch, welche Frage auch immer man beantworten wollte. Jetzt gebe ich diese ganze intellektuelle Arbeit ab ins ChatGPT und dann plötzlich schreibt er mir das in paar Minuten hin und dann kann ich natürlich sagen 'Jetzt lese ich es mir durch, jetzt weiß ich es auch'. Aber am nächsten Tag ist es vergessen, ist wieder dieser Gedächtniseffekt, weil ich es nicht tief verarbeitet habe. Das heißt, wir verlieren auch wirklich an Wissen und an persönlicher Kenntnis der Dinge. Es geht alles verloren.

Sabine Lorenz: Was ich gerade gut finde an unserem Gespräch ist, dass ich schon das Gefühl habe, dass ich lerne von Ihnen, dass wir aber selbst dieses Zeitempfinden ja beeinflussen können. Wir haben vorhin schon darüber geredet, über diese Achtsamkeit, über das Im-Moment-Sein, über weniger Multitasking. Gibt es denn noch andere Tricks, die man tatsächlich anwenden kann, um Zeit anders empfinden zu können? Oder um sich dem Gefühl zu entziehen, dass die Zeit einem die ganze Zeit davonrennt?

Marc Wittmann: Nein. Im Grunde geht es immer darum, dass ich aus diesem Autopilot-Modus rauskomme, den wir zu leicht, zu schnell einschlagen. Also ich gehe von A nach B, weil ich irgendeine Beschäftigung habe und dann bin ich irgendwie so gedankenverloren oder so und dann merkt man auch manchmal beim Autofahren 'wie bin ich denn jetzt hierher gekommen, weil ich war so gedankenverloren'. Das heißt, die Strecke zwischen A und B ist plötzlich völlig verloren, obwohl ich da vielleicht 15 Minuten zu Fuß gegangen bin. Es war, wie nicht existent. Das heißt, da sind wir wieder jetzt auch mit dieser Achtsamkeit oder Aufmerksamkeit auf den Dingen. Da geht es darum, dass ich mir immer wieder selbst gewahr werde. Es gibt dieses schöne deutsche Wort Muße, das in anderen modernen Sprachen vielleicht gar nicht so gibt, im lateinischen das Ozium und das ist vielleicht so ein bisschen auch so eine gute Möglichkeit zeigt, wie man auch anders mit der Zeit umgehen kann, weil ich mir immer wieder so selbst vielleicht auch ein bisschen selbst gewahr werde, dass ich plötzlich langsamer werde, einfach mehr um mich herum schaue, was ist eigentlich dort ein bisschen, ein bisschen in mich hinein fühle: Wie geht es mir, was will ich eigentlich? Und in solchen Momenten kann es dann zum Beispiel zu einer angenehmen Zeitstreckung kommen, weil ich mir in einer angenehmen Weise bewusst bin, was jetzt so passiert und wie es mir geht. Vorher haben wir davon gesprochen, von dieser bipolaren Einteilung: entweder die Zeit vergeht ganz schnell, weil ich auch nicht auf die Zeit achte oder die Zeit vergeht ganz langsam, weil ich auf die Zeit achte, zum Beispiel auch mit negativen Emotionen verbunden, in der Langeweile zum Beispiel. Da haben wir jetzt plötzlich eine Möglichkeit, die Zeit vergeht langsam, aber es ist nicht verbunden mit einem negativen Gefühl, sondern mit einem positiven Gefühl. Und das vielleicht so die Kunst, diese Momente öfters zu erleben.

Es ist entspannend, ich fühle mich gut und die Zeit vergeht langsam. Das ist häufig gar nicht so leicht. Eine Sache, die ich öfters mal so sage, ist man müsste sich so kognitiv umstrukturieren. Das heißt, man kann ja auch so ein bisschen üben, wenn ich an der Supermarktkasse bin und wieder denke Mensch, jetzt dauert es schon wieder so lange, sich selber bewusst werden, eigentlich dauert es nur, da gibt es dann auch so Untersuchungen dazu, vielleicht viereinhalb Minuten im Durchschnitt. Das ist eigentlich nicht so lang, viereinhalb Minuten. Eigentlich sagt man 'In fünf Minuten, ich komme' bedeutet eigentlich häufig, wenn man das sagt, ich komme gleich, es geht sehr schnell. Und wenn man so in der Schlange ist, dass man sich bewusst wird, ich bin ja jetzt einfach nur genervt, weil ich auch Emotionen habe, weil ich mich blockiert fühle. Aber jetzt kann ich das noch mal anders benutzen und sagen okay, jetzt habe ich mal Ruhe, sonst beschwere ich mich immer über die Hast des Tages, dass alles so schnell vergeht. Jetzt habe ich mal meine viereinhalb Minuten, wo ich nichts zu tun habe und kann das wie so ein Muße-Moment nehmen und dann mir überlegen, was habe ich heute gemacht, was ist mir passiert, was will ich nachher machen, wie geht es mir heute? Und so plötzlich können diese viereinhalb Minuten nicht mehr als Blockade und als negativ empfunden werden, sondern als produktiv sogar und als entspannend und als schönes Zeitintervall.

Sabine Lorenz: Das ist doch ein sehr guter Tipp zum Abschluss. Vielen Dank dafür für die spannenden Insights heute. Wir haben uns jetzt auch fast eine Stunde unterhalten, auch ein bisschen länger als gedacht. Freut mich, das ist ein super spannendes Thema. Hat mir viel Spaß gemacht, mich mit Ihnen dazu zu unterhalten und so viel zu lernen. Und ich werde mir das jetzt mitnehmen, dass ich das nächste Mal an der Kasse nicht mein Handy zücke, um die Zeit direkt zu nutzen

Marc Wittman: Wie beim Klavier üben, man muss immer so ein bisschen üben und es langsam besser machen.

Sabine Lorenz: Klappt das denn bei Ihnen?

Marc Wittmann: Ja, nun ganz auch nicht. Manchmal wird es mir dann bewusst, weil ich ja darüber so forsche und nachdenke, wird es mir vielleicht öfters bewusst als anderen Menschen. Und dann probier es halt auch. Aber weil ich halt sozusagen genauso impulsiv bin im alltäglichen Leben wie alle anderen auch, bemerke ich es an mir vor allem selber und kann darüber sprechen.

OUTRO: Wer die Gesellschaft verändern will, muss sie erreichen. Aber wie geht das eigentlich und was muss sich ändern? In diesem Podcast sprechen wir über Ideen und Themen, die uns inspirieren und die etwas bewegen. Jede Staffel neu, mal mit Gästen im Dialog und mal ganz anders. Das ist sprich!, der Podcast neues handeln.

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