Jonas Geissler ist Organisationsberater, Keynote-Speaker und Autor, aber vor allem eins: Zeitraumgestalter. Gemeinsam mit Menschen und Unternehmen erarbeitet er neue und individuelle Lösungen, um Zeit zu nutzen. Mit Sabine Lorenz spricht er über die Vielfalt von Zeit und was es bedeutet sie sinnvoll zu gestalten.
Transkript
INTRO: Wer die Gesellschaft verändern will, muss sie erreichen. Aber wie geht das eigentlich? Und was muss sich ändern? In diesem Podcast sprechen wir über Ideen und Themen, die uns inspirieren und die etwas bewegen. Jede Staffel neu, mal mit Gästen im Dialog und mal ganz anders. Das ist sprich!, der Podcast von neues handeln.
Sabine Lorenz: Hallo und herzlich Willkommen zur dritten Staffel von Sprich.
Mein Name ist Sabine Lorenz und ich beschäftige mich in dieser Staffel mit dem Thema Zeit. Genauer gesagt begebe ich mich auf die Suche nach ihr und gehe der Frage nach, wo die Zeit eigentlich bleibt. Denn wie viele andere Menschen habe auch ich oft das Gefühl, zu wenig von ihr in meinem Leben zu haben. Es ist noch gar nicht so lange her, da wollte ich ein Buch über das Thema Zeit lesen.
Genauer gesagt "Alle_Zeit" von Teresa Bücker. Es lag lange auf meinem Nachttisch. Ich kam nicht dazu, habe es immer weiter vor mir hergeschoben, habe dann geschaut, gibt es das eigentlich bei Spotify? Da gab es das nicht. Ich habe es wieder verworfen, habe mir ein anderes Buch zum Thema Zeit ausgesucht, das es als Hörbuch gab, aber auch zum Hören kam ich nie so richtig und am Ende habe ich es mir auf Blinkist angehört als Zusammenfassung und habe dann herausgefunden, dass ich es auch noch in eineinhalbfacher Geschwindigkeit gehört habe.
Und da musste ich ganz schön lachen und dachte okay, so kann es nicht weitergehen und so ist die Idee für diesen Podcast entstanden, in dem ich jetzt mit ganz unterschiedlichen Experten sprechen werde, um herauszufinden, warum es so vielen Menschen so geht wie mir und was Zeit eigentlich ist und aus welchen Blickwinkeln man Zeit betrachten kann. Heute spreche ich mit Jonas Geissler.
Hallo Jonas, schön, dass du dir heute Zeit für unser Gespräch nimmst.
Jonas Geissler: Hi!
Sabine Lorenz: Ich freue mich da sehr drauf, weil ich mir sicher bin, dass du mir als langjähriger Experte bestimmt sehr gut bei meiner Suche nach der Zeit behilflich sein kannst. Du hast schon mehrere erfolgreiche Bücher zum Thema Zeit geschrieben und unter anderem vor kurzem das Buch "Alles eine Frage der Zeit" gemeinsam mit deinem verstorbenen Vater und Harald Lesch veröffentlicht. Du berätst Unternehmen und Organisationen im Umgang mit Zeit und Transformation und sagst von dir selbst, du bist ein Zeit-Raum-Gestalter. Was macht denn so ein Zeit-Raum-Gestalter den ganzen Tag? Was ist deine Aufgabe?
Jonas Geissler: Also der Begriff, den habe ich für mich selber entdeckt, weil- also ich mache Workshops, Seminare, Coachings, Beratung. Und das sind im Endeffekt Zeiträume, in denen in Organisationen auf Dinge geblickt werden, wo sonst nicht so hingeschaut wird, die so ein bisschen außerhalb des Fokus liegen.
Zum Beispiel weil die Zeit-Perspektive, aber auch andere Dinge. Und dann hole ich Themen in die Kommunikation, über die sonst nicht so viel gesprochen wird. Und das ist meine Hauptfunktion und dafür gestalte ich einen Zeitraum absichtsvoll, wo im besten Fall etwas im Sinne von Lernen, Entwicklung, Veränderung passiert. Aber ob es dann wirklich passiert, das kann ich gar nicht garantieren, weil das ist ja genau das Gespinst, was sich da im Raum und in der Zeit dazwischen entwickelt.
Und deshalb versuche ich, diesen Raum und Zeit dazwischen zu gestalten, wohlwissend, dass man es eben nicht intentional gestalten kann, sondern nur, wenn die Zeit dafür schaffen. Und ob dann die Muße kommt oder die Erkenntnis oder was auch immer. Das ist das Spannende an dem Job.
Sabine Lorenz: Und schaffst du das dann für dich ganz privat so Zeiträume zu schaffen für Muße oder ähnliches? Wann hattest du denn das letzte Mal das Gefühl, dass du Zeit hast für was und die genießen kannst?
Jonas Geissler: Das habe ich immer wieder. Ja, ich will nicht sagen täglich, aber so auf jeden Fall jede Woche nehme ich mir Zeit für Dinge, die mir persönlich wichtig sind. Wo häufig auch eben also ich nenne es nicht-beschleunigte Zeitformen.
Das heißt, ich versuche dieses Konzept der Zeitvielfalt zu leben. Vielleicht ganz kurz. Für viele ist das ein Begriff, der nicht so bekannt ist. Also biologische Systeme, lebende Systeme stabilisieren sich über biologische Vielfalt in Ökosystemen und soziale Systeme stabilisieren sich über Zeitvielfalt also ein bunter Strauß gelebter Zeitformen, schnelle und langsame und welche dazwischen. Und dazu gehören ganz häufig Übergangszeiten zu gestalten.
Anfangen und abschließen und Übergänge zwischen Tätigkeiten, kleine Rituale dafür finden. Nicht alles beschleunigen, nicht jede Pause, nicht jede Wartezeit beschleunigen und füllen, sondern die Zeit auch leer lassen. Weil dann kriegt sie eine ganz eigene Qualität. Wenn man über Innovation und Ideen nachdenkt, dann kommt man spätestens zu dem Punkt, dass uns gute Sachen in den Zeiten einfallen, in denen nicht so viel passiert.
Das lässt sich auch neurologisch ganz gut erklären und das versuche ich für mich auch in Anspruch zu nehmen. Aber es gelingt mir nicht immer. Aber zumindest habe ich den Anspruch und versuche es. Aber das ist genau wie mit der Muße, ob sie kommt und einen küsst oder eben nicht. Das kenne ich auch vom Schreiben. Ja, man kann ihr quasi den Teppich ausrollen, aber sie ist ein Sturkopf, würde man auf Norddeutsch sagen.
Sabine Lorenz: Das heißt, dass so viele Menschen das Gefühl haben, dass ihnen die Zeit davonrennt und Zeit fehlt, hat dann eigentlich damit zu tun, dass sie diese Zeitvielfalt nicht leben oder nicht ausreichend wertschätzen? Dass wir Wartezeiten manchmal als vielleicht nicht wertvolle Zeit erachten und dann direkt gucken, wie wir diese Wartezeit wieder sinnvoll verbringen können oder schnell zu unserem Handy greifen. Ist das ein Grund dafür?
Jonas Geissler: Das ist auch ein Grund. Es gibt eigentlich zwei Gründe. Der eine ist quasi der kulturelle Code der Tatsache, dass wir Zeit in Geld verrechnen, also quasi das kapitalistische Prinzip. Und der andere ist, dass wir in einer Zeit des Möglichkeits-Überschusses leben. Und vielleicht ganz kurz ein paar Gedanken dazu: Wenn wir Zeit in Geld verrechnen, verrechnen wir eine begrenzte Größe, nämlich die Dauer eines Tages oder eines Jahres mit einer unbegrenzten Größe, nämlich mit Geld. Geld kennt kein genug. Ich kann immer noch mehr Geld aus dem Geld machen und deshalb wird es auf einmal attraktiv zu beschleunigen und daher kommen wir quasi in diese Steigerungs-Logik, wie Hartmut Rosa sagen würde. Also wir müssen immer schneller werden, um an der gleichen Stelle zu sein und immer jedes Jahr Wachstum. Ja, also eine Bundeskanzlerin oder ein Bundeskanzler oder Präsident würde in der Neujahrsansprache nie sagen "Wir sind dieses Jahr zwei Prozent gewachsen. Ich finde, jetzt reicht's", das kommt nicht vor. Und ein Firmenlenker genauso wenig, sondern es muss immer eine Schippe obendrauf sein. Deshalb ist das quasi der kulturelle Code, der da drunter liegt: Aktive Zeiten sind gute Zeiten. Nur wenn ich keine Zeit habe, sichere ich mir die Zugehörigkeit zu einem sozialen System. Wenn ich Zeit habe, ist es eher verdächtig. Außer vielleicht, ich sage mal in ein paar Subsystemen, in Lebensgemeinschaften, die sich irgendwie autark ernähren oder die sich ausgeklinkt haben.
Aber in den meisten, die quasi am Kapitalismus-Spiel mitmachen, ist Zeit haben sehr verdächtig. Das kann man schnell ausprobieren, indem man im Büro, wenn man da noch ist, die Füße auf den Schreibtisch legt und döst. Und wenn jemand kommt und sagt, was machst du denn da?' Dann kann man sagen 'Nix. Na also, ich habe Zeit, ich hab gar nichts vor'. Am Irritationspotenzial merkt man, wie stark dieses kulturelle Muster wirksam ist. Und der zweite Grund. Das hat der Niklas Luhmann schön gesagt. Der hat ja gut auf Muster geschaut, auf Interaktionsmuster. Der hat gesagt, Zeit ist gar nicht knapp. Der Eindruck der Zeitknappheit entsteht durch die Überforderung des Erlebens durch Erwartungen.
Und wenn wir in einer Multi-Options-Welt leben, in der wir leben, wir haben mehr Möglichkeiten, unsere Zeit zu verbringen als jede Generation zuvor, dann sind an diese Möglichkeiten immer Erwartungen und Erwartungs-Erwartungen geknüpft. Und die machen im Grunde ein Großteil dieses Gefühls aus. Ich komm dem nicht hinterher, weil ich das Gefühl habe, ich muss ständig. Also die Erwartungs-Erwartungen wie schnell ich auf irgendwelche Nachrichten reagiere, die ich bekomme, wie schnell ich bei meinen Followern bin, wie schnell ich antworte, wann ich erreichbar bin usw. das ist häufig wie so ein emergierendes Fantasie-Gewächs.
Ich nehme an, was die anderen von mir erwarten und das ist was, was ich in Unternehmen und Organisationen häufig mache, ich ziehe das glatt und das kann man dann auch strukturell regeln. Wenn dann eine Firma sagt 'Hey, 24 Stunden, um auf Emails zu antworten, reicht'. Dann kann so eine Struktur das Individuum entlasten. Aber generell geht quasi der Trend dahin, dass all diese Entscheidungen, die vorher strukturell vorgegeben waren, weil man war halt nicht erreichbar oder es gibt auch politische Gesetze, die das regeln, die werden zunehmend individualisiert. Und diese Entscheidungen machen ganz viel von diesem gefühlten Stress aus.
Sabine Lorenz: Das heißt, auch wenn wir jetzt gerade über neuere Arbeitsformen oder so einmal nachdenken und wie das ist dieses Stichwort Work Life Blending. Das wir einerseits immer flexibler werden in unserer Arbeitszeit, aber dadurch auch oft Arbeit und Freizeit miteinander verschwimmen, was wiederum viel mehr Eigenverantwortung von uns verlangt. Genau mit solchen, mit solchem Druck eventuell, den wir verspüren, umgehen zu können. Ist dann gar nicht nur was Positives, weil es kann ja auch was Positives sein, dass wir das so ein bisschen mehr vermischen und weniger abgrenzen.
Jonas Geissler: Ja, und da entscheidet sich das, was ich Zeit-Kompetenz nenne. Ja, also was ist die Lernanforderung, um in diesem Feld, wo sich Arbeit und Freizeit und die Grenze dazwischen natürlich zunehmend vermischt. Und das kenn ich selber von mir. Ich brauche zum arbeiten eigentlich nur ein Laptop und ein Telefon, manchmal ein Seminarraum. So, aber ich kann es eigentlich überall machen.
Und da braucht es einfach gesteigerte Kompetenz zu sagen, wann fange ich an, wann höre ich auf, wann reicht es auch, was ist das gesunde Maß? Guten Kontakt zu seinem Körper und den Signalen, die der ausstößt. Ja, nach dem Motto Welche körperlichen Bedürfnisse und seelischen Bedürfnisse habe ich und welche sozialen Bedürfnisse gibt es. Ist ein bisschen so wie früher, in der Moderne war Uhrzeit-Erziehung das Programm. Die Kinder mussten lernen, um 8:00 pünktlich irgendwo zu sein, egal wie sie sich gefühlt haben, egal, ob sie lernfähig sind.
Das ist quasi die Lernanforderung 'standardisiere dich, höre nicht auf dich, sondern komm gefälligst damit klar'. Heute ist die Anforderung eher 'Ja, fang an, wenn du arbeitsfähig bist, egal zu welcher Uhrzeit'. Das ist eine ganz andere Lernanforderung. Und das ist ja auch häufig der Vorwurf an die Schule, dass sie darauf nicht mehr vorbereitet, weil sie standardisiert in einer Welt, die natürlich eher flexibilisiert oder Flexibilität braucht.
Sabine Lorenz: Ja, total. Also es wäre jetzt auch meine nächste Frage gewesen, wenn wir das alle lernen müssen, dann müssten wir ja tatsächlich was an diesem System eigentlich ändern, am Schulsystem insbesondere, was ja tatsächlich noch sehr auf diese Taktung, ich nutze es gerne das Wort mal, weil du auch zwischen Takt und Rhythmus unterscheidest in deinen Büchern. Und das Schulsystem ist ja sehr auf Taktung ausgelegt. Es geht um 8:00 los. Jeden Morgen muss ich mein armes Kind irgendwie aus dem Bett kriegen, um dahin zu gehen. Dann ist es einmal wir lernen 3/4 Stunden-Einheit, dann ist eine 20 Minuten Pause und danach sind wir wieder bereit für die nächste 45 Minuten-Einheit. Das heißt, wir müssten daran ja eigentlich was ändern.
Jonas Geissler: Ja, unbedingt. Und es ist ein bisschen so wie auch in der Klimakrise. Wir kennen die Lösung alle. Wir wissen, was jetzt lernförderlich ist, nämlich vor allem Querschnitts-Funktion, selbstständiges Lernen, was auch beinhaltet, dass vielleicht eine Schule mit Gleitzeit anfangen könnte. Wenn ich das vorschlage, schreien alle auf, aber das wäre schon auch möglich. Das wäre auch machbar. Ja, und genauso wie wir quasi zur Lösung der Klimakrise die Maßnahmen alle kennen und zugleich gibt es einfach riesige Beharrungskräfte in diesem ganzen Spiel, die dafür sorgen, dass sich möglichst nichts ändert.
Bei der Klimakrise ist es schön aufgeschrieben. Da empfehle ich immer das Buch "Die Klimaschutz Lobby". Darin ist schön beschrieben, welche Beharrungskräfte dafür sorgen, dass sich da möglichst wenig verändert.
Sabine Lorenz: Ja, es sind diese Beharrungskräfte und dann denke ich aber auch, wenn wir ja vielleicht wirklich ein Stück weit verlernt haben, in einem Rhythmus zu leben mit unserem Körper oder mit der Natur, die uns umgibt, dann verlieren wir ja auch das, was Hartmut Rosa dann Resonanz nennt.
Dann verlieren wir ja so ein bisschen den Kontakt dazu. Wir können gar nicht mehr wirklich in Resonanz treten. Es entsteht vielleicht dieses Aggressions-Verhältnis, was wir zu unserer Umwelt entwickeln und macht es dann vielleicht auch noch mal aus eigenem Antrieb viel schwieriger, darauf zu hören, was jetzt wirklich eigentlich gerade das Richtige ist, weil wir gefühlt ja in dieser Taktung gefangen sind. Wodurch ist das dann eigentlich auch mal geschichtlich bedingt entstanden, dass wir in diesem Takt leben und uns so sehr entfernt haben vom Rhythmus, weil ursprünglich war das ja so, das sich Zeit ja durch durch den Rhythmus der Natur bestimmt hat und nicht dadurch, dass wir sie in Uhrzeiten packen.
Jonas Geissler: Also vielleicht hole ich ein bisschen aus um eine kurze Geschichte der Zeit. Also bevor wir die mechanische Räderuhr erfunden haben, haben wir im Einklang der Natur gelebt. Das klingt heute so ein bisschen romantisiert, war aber knallhart, weil die Natur hat ja nicht nur die schönen Seiten, sondern man war sehr abhängig von Überschwemmungen, Hungersnöten, von Krankheiten. Die Leute sind früh gestorben und zum Zahnarzt wollte man damals auch nicht unbedingt. Also Natur war eher bedrohlich, aber sie hat die Zeit bestimmt.
Das Wetter war bestimmend über die Zeit der Menschen. Deshalb ist in den romanischen Sprachen Zeit und Wetter der gleiche Begriff. Les temps im Französischen ist Zeit und Wetter. Genau. Und wir haben irgendwann die mechanische Rhetorik erfunden. Es gab ja schon sehr lange Uhren, Sonnenuhren, Wasseruhren, Kerzenuhren. Und so weiter und so fort. Und die hat aber, wenn man so will, die Sonnenuhr zeigt nur die schönen Stunden an, die mechanische Uhr, die im Kloster erfunden wurde, vor ungefähr 600 Jahren, zeigt jede Stunde an, und wir haben also durch die Erfindung dieser Maschine heute würde man sagen eine disruptive Innovation die Natur aus der Zeit rausgeschmissen und die Zeit zu dem gemacht, wie wir sie heute noch sehen, nämlich eine Rechengröße, eine Messgröße, eine leere Quantität. Und weil sie von der Qualität der Natur befreit war, quasi aus den Händen Gottes in die Hände der Menschen gekommen ist, konnten wir sie neu besetzen mit der Qualität des Geldes. Das haben wir gemacht. Die Uhr ist quasi die Voraussetzung für den Kapitalismus. Kurz darauf wurde die erste Bank erfunden, auch in Italien, und die doppelte Buchführung. Und die Uhr hat sich sehr schnell über die Handelswege verbreitet, weil man gemerkt hat, welches Potenzial in der konsequenten Verrechnung von Zeit in Geld liegt. Und noch ein Machtpotential, weil auf einmal hat man ein Gerät, an dem man stellen kann, mit dem man menschliches Verhalten ordnen, steuern synchronisieren kann und macht ist immer Herrschaft über Raum und Zeit.
Und das ist das große Programm der Moderne, der Neuzeit. Wir haben, um in den Worten Hartmut Rosas zu sprechen, die Zeit verfügbar gemacht, so wie wir ganz viele Dinge verfügbar machen, auch Land. Wenn wir Land erobert haben, dann haben wir es erst mal sichtbar gemacht. Wir haben es zugänglich gemacht, wir haben einen Zaun drum gezogen. Irgendwann haben wir es nutzbar gemacht.
Genauso haben wir es mit der Zeit gemacht. Wir haben sie auf einmal sichtbar gemacht. Wir haben sie an die Kirchtürme gehängt, wir haben Programme entwickelt, die den Leuten sagen, dass sie sich gefälligst danach zu richten haben. Und dann haben wir sie beherrschbar gemacht, indem wir sie quasi steuern, selbst in die Hand nehmen und sagen, wie viel Uhr es ist.
Und dadurch erzeugen wir viel Wohlstand. Und wir als postmoderne Menschen sind quasi immer in dem Zwiespalt zwischen der Aussicht auf noch mehr Welt in Reichweite bringen, mehr Möglichkeiten und das ist ein riesen Wohlstand. Da haben wir es weit gebracht. Wir könnten, wenn wir jetzt wollten, sagen 'Hey Sabine, lass uns doch dieses Gespräch in 24 Stunden in Sydney fortführen'. Das könnten wir machen. Das wäre überhaupt kein Problem. Vor 600 Jahren absolut undenkbar. Und was es noch für alle Möglichkeiten gibt. Also wir haben wahnsinnig viel Geld in Reichweite gebracht. Gelingendes Leben funktioniert aber anders. Weil wenn wir immer mehr Zeit verfügbar machen, dann entwickeln wir ein aggressives Verhältnis zu Zeit. Ich muss sie sparen, managen, in den Griff kriegen, schauen, dass ich sie nicht verliere, manchmal muss ich sie sogar totschlagen. Das uns innewohnende seelische und körperliche Bedürfnis ist aber ein Bedürfnis nach Resonanz. Unter anderem deshalb, weil unsere erste sinnliche Erfahrung eine Resonanz-Erfahrung ist, nämlich das Eingebettet sein in den Körper der Mutter. Jede und jeder von uns hat diese Erfahrung pränatal gemacht, die uns aber, wie man heute weiß, unbewusst sehr stark prägt. Und Resonanz ist also eine Antwort-Beziehung mit meiner Umwelt, mit einem Menschen in einem Gespräch, mit einer Tätigkeit, beim Musizieren, beim Sport machen. Wir kennen alle solche Resonanz-Phänomene. Kinder sind wahre Meister, sich mit zwei Kastanien und Stöckchen in ein Spiel zu vertiefen, Raum und Zeit zu vergessen und darin aufzugehen. Es ist eigentlich ein Moment der Zeitlosigkeit und das macht gelingendes Leben aus.
Und jetzt komme ich gleich zum Schluss. Das Wesentliche an diesen Resonanz-Situationen ist, dass sie unverfügbar sind. Ich kann sie nicht garantieren, ich kann sie auch nicht beherrschen, ich kann sie nicht verkaufen. Also ich kann das Versprechen danach verkaufen. Der Urlaub mit Wohlfühl- oder Resonanz-Garantie, das kann ich machen. Aber ob die wirklich kommt? Und das macht den Reiz an diesen Resonanzen-Phänomenen aus.
Und ein Punkt für gutes, gelingendes Leben kann nach diesen Resonanz-Momenten Ausschau zu halten und Dinge zu tun, die sie wahrscheinlicher machen, ohne sich quasi zu grämen, wenn sie nicht garantiert eintreten.
Sabine Lorenz: Dann sind wir wieder bei den Erwartungen, die man zurückschrauben muss und mehr zulassen muss, dass die Zeit auf einen zukommt.
Jonas Geissler: Vielleicht lass mich noch eine Sache sagen. Weil man könnte ja so fragen: Welche Haltung fördert denn Resonanz? Und die Haltung gegenüber der Zeit, die Haltung der verfügbar machen ist eben die Zeit in den Griff bekommen. Aber für Resonanz ist eher förderlich, sich im Fluss der Zeit zu sehen. Ich bin die Zeit. Zeit ist Leben. Ja, und das Leben findet immer nur jetzt statt, zu keinem anderen Zeitpunkt. Dazu ist es zum Beispiel auch von der Haltung besser, dieses predict and control loszulassen, zumindest stückchenweise, zeitweise und auf Sense and Response umzustellen.
Also hineinspüren und darauf selbstwirksam antworten und das versuche ich auch in meinen Seminaren, weil im besten Fall werden die Resonanzräume, aber ich kann es nicht garantieren. Deshalb versuche ich zum Beispiel, ich nenne das immer so gelöste Fokussiertheit oder engagierte Wurschtigkeit, könnte man es auf Bayerisch sagen. Das heißt klar, ich mache einen Plan, ich mache das absichtsvoll, ich mache mir Gedanken, und dann bleibe ich nicht dran kleben. Dann lasse ich los, weil dann schaue ich, was passiert. Und das ist zumindest von der Haltung her aus meiner Sicht eine Herangehensweise, die Resonanz wahrscheinlicher macht.
Sabine Lorenz: Eine Situation, die man sich aber tatsächlich auch erst mal schaffen muss und die gar nicht, glaube ich, dann kommen wir noch mal vielleicht gleich zu dem Thema Zeit-Gerechtigkeit. Da musste ich jetzt gerade drüber nachdenken, weil das natürlich vielleicht auch eine sehr privilegierte Situation schon ist, dass man sich seine Zeit so schaffen kann. Sollte es nicht sein, aber ist es, wenn man sich verschiedene Berufsgruppen beispielsweise anschaut, ist es das ja durchaus, dass wir sagen können, wir teilen und versuchen uns Zeit einzuteilen oder Zeit auch auf uns zukommen zu lassen, ist für manche Menschen in unserer Gesellschaft möglich. Für andere ist es, glaube ich, schwieriger. Dann kommen da viele Aspekte rein, dann wieder Zeit ist Geld irgendwie ja, irgendwie auch nein, Aber je reicher ich bin, umso mehr kann ich mir Zeit kaufen. Eigentlich wirklich ja wieder auch, indem ich eine Haushaltshilfe habe. Oder indem ich mir Babysitter hole und mir ermögliche, noch mal neue Freiräume für mich selbst zu schaffen, die ich entsprechend fülle oder nicht füllen kann.
Was ja jetzt zum Beispiel in unserer Gesellschaft auch eine kleine Herausforderung ist, wenn man sich anschaut, eine alleinerziehende Mutter, die vielleicht wenig Zeit dafür hat, die viel arbeiten muss, die danach viel Care-Arbeit verrichtet und für die das viel schwerer ist
Jonas Geissler: Ich würde es ein bisschen differenzieren, weil Resonanz-Momente können ganz kurz sein und die kann man eigentlich ständig haben.
Selbst wenn ich morgens in der U-Bahn stehe und alle haben irgendwie einen griesgrämigen Gesichtsausdruck und ich lasse den Blick schweifen und ich treffe den Blick einer anderen Person und ich lächle und kriege ein Lächeln geschenkt. Dauert eine halbe Sekunde und ich merke irgendwie hey, das war ein mini Resonanz-Moment, aber irgendwie cool. Danke. Du hast mir den Tag versüßt.
So und mit Kindern in Kontakt usw. das ist davon unabhängig. Gleichzeitig hast du natürlich völlig recht, das genau wie das Geld in unserer Gesellschaft völlig ungleich verteilt ist, die Zeit obwohl sie an sich total gleich verteilt ist, jeder von uns kriegt 24 Stunden jeden Tag, sie ist ja sehr gerecht verteilt, aber die Zugänge zu selbstbestimmter und freier Zeit, die sind sehr ungerecht verteilt.
Und da hast du völlig recht. Es gibt natürlich prekäre Arbeitssituationen und Mehrfachbelastungen, häufig von Frauen und alleinerziehenden Müttern. Ist wirklich eine sehr verschärfte Rahmenbedingung, die von der Gesellschaft, von den gesellschaftlichen Strukturen auch viel zu schlecht unterstützt werden. Da mag so mancher Hinweis, über den wir hier sprechen, zynisch erscheinen, weil es überhaupt keinen Spielraum gibt, um über Zeit zu entscheiden. Und das ist eine ganz wesentlicher Aspekt von Zeit-Wohlstand, der heißt, wir können ja auch mal überlegen, wie wir in dieser Gesellschaft Wohlstand definieren. Da gab es ja schon eine Enquete-Kommission der Bundesregierung, sowohl in Frankreich als auch in Deutschland, die geschaut hat 'So, das BIP ist eigentlich gar nicht so geeignet, um zu merken, haben wir Wohlstand in dieser Gesellschaft.' Und wenn man das zeitlich betrachtet, ist natürlich Zeit-Wohlstand ein Aspekt. Genügend Zeit für Tätigkeiten der Regeneration, der Kontemplation, der seelischen Erbauung und für soziale Kontakte, die damit einhergehen. Und natürlich genügend Zeit für Nichtarbeit. Und damit ist quasi nicht nur Nicht-Erwerbsarbeit gemeint, sondern natürlich auch die ganze Care Arbeit, die häufig vergessen wird in dieser Diskussion. Und gerade wird da zum Glück der Fokus sehr stark drauf gelenkt. Auch durch ein Buch von Teresa Bücker Alle_Zeit, was gerade wirklich die Runde macht und sehr viel diskutiert wird, weil die quasi ein feministisches Buch geschrieben hat und die Zeit-Ungerechtigkeit auch zwischen den Geschlechtern sehr stark thematisiert dadurch. Und das ist wirklich an der Zeit für diese Debatte und die Diskussion und nicht nur drüber zu reden, sondern was zu machen. Und es gibt ja auch Diskussionen über die vier Tage Woche, über andere Arbeitszeitmodelle, überzeitliche Aufteilung, die auf jeden Fall gerechter sind, bis hin zur Diskussion über bedingungsloses Grundeinkommen, was natürlich ein Umverteilungs- oder Neuverteilungsmechanismus wäre, um die viele, viele Arbeit in der Gesellschaft geleistet wird, die nicht entlohnt wird, aber für die Gesellschaft extrem relevant ist, ein Stück weit zu entlohnen. Und das würde ein Riesenunterschied im Umgang mit Zeit machen. Natürlich. Also das ist ja auch schon auch durch alle Parteien hindurch schon sehr lange diskutiert. Es gab viele Feldversuche und es gibt natürlich auch viele Gegenargumente, aber ich habe das Gefühl, bei dieser neuen 'Welche zeitlichen Strukturen führen zu mehr Gerechtigkeit und Zeit-Wohlstand, da ist gerade viel in Diskussion und ich möchte mir nicht anmaßen, da einen richtigen Weg definieren zu können. Ich finde es wichtig, die Debatte zu führen und was auszuprobieren. Das wäre mein Hinweis.
Sabine Lorenz: Ja, eine super wichtige Debatte, finde ich und ist dann total schön, dass das gerade durch Teresa Bücker gerade so viel Aufmerksamkeit bekommt das Thema. Und am Ende hängt das ja tatsächlich zusammen irgendwie. Also Zeit-Gerechtigkeit, Vermögens-Gerechtigkeit, so das hängt am Ende dann doch alles miteinander zusammen.
Und dann gibt es so ein paar politische Stellschrauben, an denen man drehen könnte. Neben dem bedingungslosen Grundeinkommen geht es dann vielleicht ja auch um Vermögensverteilung, beispielsweise was Erbschaftssteuern oder ähnliches angehen. Aber ich glaube, es gibt so ein paar politische Hebel, die dafür sorgen können, dass es grundsätzlich ein Mehr an Gerechtigkeit in diesen beiden Dimensionen in unserer Gesellschaft geben kann.
Jonas Geissler: Also es gibt nicht nur ein paar, es gibt sehr viele politisch Hebel und es ist wichtig, den Fokus zurück auf die Politik und weg vom Individuum zu lenken, weil, da verweise ich immer gerne an die Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik, die es gibt und die Politik auch berät. Weil häufig ist die Zeit-Perspektive in der Politik etwas unterbelichtet. Und da wird aber Politik spürbar. Also im Zeit Erleben der Bürgerinnen und Bürger und für mich ist auch wichtig, und da habe ich auch in unserem Buch relativ viel darüber geschrieben, also man kann die Zeitperspektive auf Unternehmen und quasi die Zeit auf den Kapitalismus übertragen. Und der ist ja momentan nur so, nur so erfolgreich, weil er eigentlich immer unfair rechnet. Also wir verrechnen Zeit in Geld, aber das momentane Prinzip beruht vor allem darauf, dass wir das ganz unfair machen und wir haben gar keine vollständige Bilanzierung, weil die ganzen externalisierten Kosten, die entstehen ja meistens woanders und wann anders, werden nicht mit einkalkuliert. Und dazu gibt es aber fertige Konzepte, die wir umsetzen müssen. Dazu bräuchte es unbedingt politische Regelungen, die eben was wie True Cost Accounting oder auch eine Gemeinwohl-Bilanzierung.
Also die Tools sind alle da. Heute beruht es eher auf Freiwilligkeit, ob Firmen so was tun. Und ich verweise immer gerne auf eine Firma und ich finde es wichtig, auch mal die Namen zu nennen von denen, die das richtig machen. Das ist die Firma Vaude, die sitzt am Bodensee, macht Outdoor-Klamotten und die können es sich leisten aufgrund ihrer Haltung eine Gemeinwohl-Bilanz zu erstellen.
Und das sollte aber nicht quasi ein Wettbewerbsnachteil sein, sondern es sollte ein Vorteil sein. Und dafür müssen die politischen Rahmenbedingungen gegeben sein. Unbedingt. Und das kann nur auf der Ebene geregelt werden, weil leider funktioniert quasi die Selbstverpflichtung von Organisationen, das wäre schön, wenn alle sagen und Leute, ihr habt recht, also Wirtschaftsethik würde funktionieren, also das eine ethische Verpflichtung sagt 'Nee Leute, lasst uns mal bitte hier jetzt echt rechnen und ernsthaft rechnen und mit externalisierten Kosten und wir machen das alle und dann haben alle wieder die gleichen Ausgangsbedingungen'. Ne, findet natürlich nicht statt. Sehen wir jetzt. Gerade hat Luisa Neubauer auf der OMR wieder eine gute Rede gehalten, die den Finger voll in die Wunde legt, wie alle mit Greenwashing Kampagnen versuchen, sich einen Anstrich zu geben und hinten auf der Hinterbühne doch das alte Spiel weiterzuspielen.
Sabine Lorenz: Ja, definitiv. Und das ist ja irgendwie dann auch die Herausforderung dieses Systems Kapitalismus, das auf Wachstum ausgelegt ist, in so eine Richtung zu bewegen, dass diese dieses Wachstum tatsächlich nicht auf Kosten unserer Umwelt passiert. Ehrlich gesagt, ich weiß gar nicht, ob es überhaupt möglich ist, weil dafür sind wir glaube ich schon sehr weit in die eine Richtung gerannt und um auch darauf noch mal, da würde ich gerne noch mal drauf zurückkommen, weil dieses Wachstum geht ja immer oder im Moment zumindest mit Beschleunigung einher. Also wir beschleunigen ja vieles, was wir tun, um produktiver zu werden. Wir erfinden immer neue Technologien. Jetzt ist es nicht nur Smartphone, jetzt haben wir auch noch KI, die schneller, noch mal viel schneller ist, als wir selbst irgendwas produzieren können. Das heißt, wir schaffen immer mehr. Wir haben trotzdem nicht mehr Zeit dadurch, weil wir auch dann versuchen, nicht nur schneller zu sein, sondern dann auch wirklich immer ein Mehr an Produktion hinzubekommen und diese Gleichzeitigkeit, die dadurch entsteht auch, verbraucht super viele Ressourcen und das geht natürlich extrem auf Kosten unseres Planeten am Ende und dann auf Kosten unser aller und unserer Kinder, weil wir ja immer mehr Ressourcen verbrauchen dadurch.
Jonas Geissler: Das nennt man Zeit-Rebound-Effekt und der wird auch untersucht vom Fraunhofer ISI in Karlsruhe in Kombination mit der Leuphana Uni und der Uni Berlin. ReZeitKon heißt das, ganz interessant. Also diese Beschleunigung ist relativ simpel. Also wir machen in einer Stunde eine gewisse Anzahl an Tätigkeiten. Jetzt nutzen wir jetzt ChatGPT und machen das gleiche in einer halben Stunde statt in einer Stunde und haben dann das, was wir immer gerne Zeitersparnis nennen und könnten, theoretisch jetzt sagen 'Ja, cool, halbe Stunde Füße hochlegen, dösen, mit den Kids spielen, whatever'. Tun wir aber nicht. Also der Rebound-Effekt ist, dass wir diese Zeit füllen. Mehr Aktivität in gleicher Zeit bei erhöhtem Ressourcenverbrauch und verringerter Nutzungstiefe.
Also wir bestellen uns halt zehn Bücher bei Amazon, aber können keins mehr lesen und sie stehen im Schrank und rufen alle 'Lies mich!' und die empfundene Zeitnot wird also größer dadurch und die Zeit wird wertvoller, weil wir sie in Geld verrechnen, mehr Aktivitäten und weil dem so ist, brauchen wir noch bessere, schnellere Zeitspartechniken. Und dann schließt sich der Kreislauf. Und die Frage ist, wie können wir es schaffen auf Subjekt-Ebene, auf individueller Ebene ist das Dösen auf einer Parkbank ein subversiver Akt, weil es eben aus diesem Kreislauf ausbricht, aber damit werden wir nicht das System verändern, sondern das sind quasi kleine Zeit-Biotope und Zeit-Inseln, die wir uns persönlich schaffen. Und das ist ja auch okay. Wir dürfen nur nicht den Anspruch haben, dass wir damit den Kapitalismus verändern, wenn das nur alle machen würden. So wird es nicht funktionieren, sondern es muss natürlich Regulierungen geben, die für faire Verhältnisse sorgen. Und faire Verhältnisse heißt auch: Wie viel Wachstum können wir auf einem begrenzten Planeten ermöglichen? Und das lässt sich leicht sagen, in einer globalen Gesellschaft ist das natürlich sehr schwer durchzusetzen, vor allem in einer Wettbewerbsgesellschaft. Und ich weiß auch nicht, ob wir das schaffen oder hinkriegen.
Wir werdens wahrscheinlich irgendwann schaffen, also es wäre schön, es durch Einsicht hinzukriegen. Meine Befürchtung ist aber, dass es Lernen durch Krise ist, der Modus, den wir haben werden. Und da ist jetzt die Frage, wie groß wird die Krise oder muss sie werden, dass wir substanziell etwas verändern? Der Planet wird natürlich weiter existieren, und wahrscheinlich wird in ein paar 100 Millionen Jahren oder vielleicht schon viel früher davon nichts mehr übrig sein.
Aber es geht ja um gelingendes Leben auf diesem Planeten in Einklang mit den lebenden Wesen und im friedlichen Miteinander. Und da sind wir leider relativ weit von entfernt.
Ja, es tut mir leid, das so sagen zu müssen. Ich wünschte, ich könnte da eine frohere Botschaft kundtun.
Sabine Lorenz: Ja, es ist so deprimierend, darüber zu sprechen. Aber ich fürchte auch, dass wir das erst spüren müssen, damit wir ins Handeln kommen, weil vielleicht hängt es aber auch damit zusammen, dass wir gerne so wir füllen uns gerne unsere To Do Zettel mit Sachen, die wir dann abhaken können. Und dann haben wir auch das Gefühl 'Ach, jetzt muss ich noch mal eine Sache, hhaken, Check, check, check'. Das gibt mir so ein gutes Gefühl. Ich habe meine Zeit jetzt irgendwie sinnvoll genutzt. Ich kann so ein paar Haken setzen und das ist sehr viel einfacher, als zu sagen 'Stopp! Jetzt widme ich mich mal so einer größeren Sache, die ich nicht so leicht abhaken kann, sondern es ist viel aufwändiger, erst mal zu sagen 'Jetzt mach ich mir aber mal Gedanken, was ich eigentlich tun kann, um zum Beispiel CO2 zu sparen oder um dafür zu sorgen, dass wir eine gerechtere Gesellschaft haben. Es erscheint weniger reizvolleres To Do vielleicht zu sein, weil man nicht so ein Haken dran setzen kann. Ist das so?
Jonas Geissler: Also das ist tatsächlich so. Ja, also wenn man auch Neurologen fragt, dann haben wir einfach ein sehr altes Belohnungssystem im Gehirn. Also es gibt es schon sehr lange beim menschlichen Gehirn und auch natürlich bei Tieren. Und der erste Impuls ist Instant-Gratifikation, also das heißt sofortige Bedürfnisbefriedigung, Lustprinzip und Kleinkram erledigen, kleiner Haken, Zettel wegschmeißen, durchrei?en, abstreichen. Und dieses Gefühl, was sich da da einstellt, dieses kleine Gefühl der Wirksamkeit, das ist Dopamin, das die Wirkung von Dopamin, also dem Neurotransmitter im Gehirn.
Und das ist ein sehr mächtiges Prinzip. Also das findet sich auch, wenn man Kindern Belohnungen gibt, häufig in Kombination mit Süßigkeiten. Man geht in die Apotheke, muss man sich mal vorstellen, und dann kriegt das Kind Traubenzucker geschenkt. Also gut, da steige ich jetzt mal nicht drauf ein. Ja, aber das spielt alles mit unseren Dopamin-Loops und bei Insta, Facebook, Twitter und Co sitzen Heerscharen von Psychologinnen und Programmiererinnen, die die Algorithmen nur so programmieren, dass sie möglichst immer dieses Instant Gratification haben. Und das führt dann dazu, dass man nur auf die Uhr gucken wollte, sein Smartphone sieht und eine 3/4 Stunde später auf YouTube wieder aufwacht.
Das Gehirn ist immer das Protokoll seiner Benutzung. Wenn wir das viel trainieren, können wir das gut. Und dann ist quasi auch die Erwartungshaltung des Gehirns nach dieser Instant Gratification. Und dann nimmt die Aufmerksamkeitsspanne ab. Die Langstrecke, ein 800 Seiten Buch zu lesen, einen Text zu schreiben, sich irgendwo richtig tief rein zu fuchsen, Fokus, konzentriertes Arbeiten und natürlich auch solche eher strategischen Aufgaben: Okay, wie kann ich mein Leben so wandeln, dass es in Einklang mit meiner Mitwelt ist? Das sind eher Sachen, da kriegst du eben erst mal nicht so eine Instant Gratification, sondern das ist quasi wie bei dem berühmten Marshmallow Test, wo man den Kids Marshmallows hingelegt hat und der Versuchsleiter meinte, ich muss ich noch mal kurz was holen, wenn du es schaffst, zehn Minuten das Ding nicht zu essen, kriegst du noch eins. Für einen 5-jährigen oder eine 5-jährige ist es natürlich Wahnsinn, weil das alles schreit 'Nimm das Ding, runter damit, was du gegessen hast, hast du', so nach dem Motto. Und Lust auf Schub ist was Affekt-Regulation, was wir erst lernen müssen im Laufe unserer Sozialisation. Und jetzt scheinen wir es gerade wieder zu verlernen, weil die ganzen Devices uns das wieder abtrainieren, weil mit schnellen Reizen lässt sich einfach mehr Geld verdienen.
Und du hast völlig recht. Also das ist mal, was man Deep Work nennt oder eben mittelfristige Belohnung. Also ich arbeite viel mit Doktoranden, zum Beispiel und Doktorandinnen. Und in meiner Welt ist es mittlerweile die Hauptherausforderung an einer Doktorarbeit, gar nicht jetzt sich inhaltlich da rein zu fuchsen. Das kriegt man hin. Aber den Rahmen zu schaffen in einer schreienden Welt da so eine Langstrecke zu laufen, da dran zu bleiben, das im Strudel der Ereignisse sich dafür Zeiträume öffnen, das ist die eigentliche Herausforderung. Zum Beispiel an der Doktorarbeit, könnte man auch durch andere Sachen ersetzen.
Sabine Lorenz: Ja, ist es definitiv. Also es ist glaube ich auch in unserem Alltag als Kommunikatoren und Kommunikatorinnen in einer Agentur genau das, dass wir ja einerseits sehr viel managen und sehr viel schnell regeln, aber dann diese Zeiträume brauchen, um auch mal schreiben zu können und konzipieren zu können. Und das ist tatsächlich, glaube ich, für sehr viele Wissensarbeitende die große Herausforderung, wie man so Fokuszeiten in seinen Kalender kriegt. Du hattest vorhin auch mal das Thema Zwischenzeiten erwähnt, da dachte ich auch direkt an meinen Kalender, beispielsweise in dem in einem Arbeitsalltag diese Zwischenzeiten ja kaum mehr vorkommen. Ich musste dann oft an früher häufige akademische Viertel denken, was ja sehr gut diese Zwischenzeit erfüllt. Ich bin in einem Kurs, in einer Vorlesung, dann hab ich Zeit um zum nächsten Raum zu wechseln, um mich aufs nächste Thema und meine nächste neue Umgebung einzustellen, weil diese halbe Stunde Zwischenzeit habe, um Räume zu wechseln. Heute ist es sehr oft so, dass wir nur noch virtuelle Räume wechseln und eigentlich diese Back-to-Back-Meetings haben. Um Punkt 10 Uhr endet das eine und um Punkt 10 startet eigentlich schon das nächste Meeting, das sich um ein ganz neues Thema drehen könnte oder oft auch tut. Das heißt, uns fehlt ja eigentlich diese ja, diese Zwischenzeit geht komplett abhanden, obwohl wir die als Menschen vermutlich ja eigentlich brauchen, um uns zumindest mal kurz auf was Neues einzustellen und umzustellen.
Jonas Geissler: Also das liegt an dem Thema, was du vorhin auch mal angesprochen hast: Takt und Rhythmus. Vielleicht ganz kurz einen Satz oder zwei Sätze dazu. Alle lebenden Systeme sind rhythmisch organisiert und Rhythmus ist immer Wiederholung mit Abweichung. Unser Herz schlägt die ganze Zeit aber immer ein bisschen anders, je nachdem, was wir machen. Genauso ist es mit der Atmung, mit dem ganzen Stoffwechsel. Jedes Jahr ist es Frühling, Sommer, Herbst und Winter, jedes Jahr ein bisschen anders. Das ist der Rhythmus. Und Takt ist das Zeitmuster der- Der Rhythmus ist lebendig. Takt ist ein totes Zeitmuster. Es ist das Zeitmuster der Maschine. Die Uhr hat uns das gebracht. Jede Minute gleich lang. Das ist Takt. Also Kippschalter-Prinzip, wenn man so will. Und wenn wir uns verschiedenen Themen widmen, dann sind wir rhythmisch organisiert. Und der Rhythmus hat immer einen Dehnungs-Spielraum. Also mein Herz schlägt ganz unterschiedlich, hat eine riesen Varianz in dem, wie es schlägt und ein Gewässer beispielsweise kann mit gewissen Schadstoffen belastet werden und kann das kompensieren. Die Erde als Ökosystem kann die Ressourcennutzung ein Stück weit kompensieren. Aber irgendwann reißt dieser Spielraum und auf täglicher Basis erleben wir das, wenn sich nur noch die Gesichter auf dem Bildschirm ändern und wir uns am Ende eines langen Arbeitstages fragen 'Was habe ich eigentlich gemacht den ganzen Tag?' Dann weiß ich, dass ich nirgends präsent war, nirgends wirksam war und nirgends angekommen bin. Das ist aber für die Psychohygiene wichtig, um das Gefühl zu haben 'Ich habe mit meiner Lebenszeit und mit meinem Wirken etwas bewirkt, etwas getan', und dazu brauchen wir Übergänge. Wir brauchen Pausen und Übergänge. Zeitliche Dehnungsfugen würde vielleicht der Ingenieur oder die Ingenieurin sagen in unserem Tag. Also Back-To-Back-Meetings auf Kante nähen ist ein ganz schlechter Ratschlag, sondern eher Räume, Zwischenräume zu lassen. Ja, also selbst bei Seminaren. Owen Wilson hat ja so den Open Space erfunden, indem er die Rückmeldung gekriegt hat, 'War ein cooles Seminar, aber das Beste war die Pause'. Also hat er die Pause zum Konzept gemacht. Die Zwischenzeit. Das kann man jetzt nicht auf alle Meetings übertragen, aber man kann mit dieser Zwischenzeit-Brille mal auf den eigenen Tag schauen und sich mit Selbstbewusstsein und ohne schlechtes Gewissen diese Zeiten ermöglichen und häufig sind es sehr produktive Zeiten, weil sie unproduktiv sind, vermeintlich. Also wenn wir schlafen und ins Gehirn gucken, passiert ja auch sehr, sehr, sehr, sehr viel im Gehirn. Es ist ja keine Zeit, wo das Ding abgeschaltet ist, sondern da findet ganz viel statt, was wieder Voraussetzung ist, dass wir am Tag was leisten können und wirksam sind. Das ist quasi der Rhythmus aus Aktivität und Regeneration und das kann man ausprobieren. Man kann zum Beispiel in Meetings mit einer Minute Schweigen beginnen, gar nicht, um irgendwas zu gedenken. Ich kenn Unternehmen, die das machen, sondern um sich zu verorten, in die Präsenz zu kommen, das Eine mal abzuschalten und dann erst zu starten. Oder man startet das Meeting mit einer kleinen Übergangszeit und sagt 'So Leute, wir starten mit einer Pause'. Und die Pause ist natürlich immer das Gegenteil von dem, was man vorher gemacht hat. Also wenn man die ganze Zeit vorm Rechner saß, steht man mal kurz auf. So das sind eigentlich alles Dinge des gesunden Menschenverstandes. Das muss man gar nicht groß erklären. Es geht darum, es zu machen. Und da hilft es häufig, wenn eine Person mal zugreift und sagt: 'Ganz ehrlich, Leute, ich, ich, ich kann überhaupt nicht mehr folgen. Ich weiß gar nicht, was wollen wir denn jetzt hier eigentlich entscheiden? Und das ist jetzt das sechste Meeting heute. Ich brauche jetzt echt ne Pause. Ich könnte mir vorstellen, euch geht es ähnlich. Wir machen das jetzt einfach.' Und so zupackt und Muster setzt und meistens damit Fürsprecherin ist für die Vielen, für das Erleben der anderen, die im Raum sitzen. Und so können dann so kulturelle Muster auch mal geknackt werden. Dder Check in. Also ich arbeite auch mit viel Unternehmen, die sich quasi so ein bisschen der echten New Work Szene verschrieben haben. Auch dieser Begriff ist natürlich schon wieder vollkommen abgenudelt und so. Sei's drum. Wo man aber mal mit einen Check in startet mit einer Frage: So, wie bin ich denn eigentlich gerade da? Oder worauf freue ich mich heute hier? Was will ich heute, am Ende des Tages bewirkt haben? Ich finde einen guten Hinweis auch: Versucht, abends nicht als schuldige Subjekte ins Bett zu steigen. Ja, weil natürlich hätten wir immer noch mehr tun können, aber das ist eine Binsenweisheit. Das war auch schon früher so. Ja, natürlich haben wir an einem Tag heute wieder mehr Dinge nicht getan als getan. Und jetzt ist die Frage: Wo gucke ich denn am Ende des Tages hin? Sag ich wieder 'Ah, guck mal, Jonas, das hast du nicht geschafft, hast du auch nicht hingekriegt, dazu bist du auch nicht gekommen, obwohl ich hier gerade irgendwie 6, 7, 8, 9 Stunden gearbeitet habe, schieße ich mir einmal fröhlich in den Fuß, wie schlecht doch alles gelaufen ist, sondern zu gucken 'Hey, was habe ich heute bewirkt?'
Und ja, natürlich habe ich mehr nicht getan als getan. Logisch. Jeden Tag. Aber muss ich da immer hingucken? So, und ich sage mal ganz häufig ist so eine Erkenntnis nach meinen Seminaren nebst ein paar Tools, die angewendet und umgesetzt werden, aber die Voraussetzung dafür ist eher: Ich entscheide jetzt bewusster und selbstbewusster über meine Zeit und es ist mir eigentlich ein Stück weit egaler, was die anderen denken, ohne dass ich zu denen unfreundlich werden muss, sondern ich warte ein bisschen bei meinen Leisten zeitlich und gräme mich auch nicht mehr so. Also das ist eben diese von Luhmann Überforderung des Erlebens durch Erwartungen, die an mich habe, was ich in meine Zeit alles reinstopfen will.
Und wenn ich halt zwei Leben in einem leben will, dann wird das auf Kosten von quasi Zeit-Wohlstand gehen. Gibt schöne Bücher dazu, ich empfehle gerne dieses Four Thousand Weeks von Oliver Bergmann. Das ist auch relativ bekannt geworden und auch von Marianne Grönemeyer, ehemals Professorin in Wiesbaden, Das Leben als letzte Gelegenheit. Wundervoller Titel und auch ein gutes Buch. Und das Thema Endlichkeit, wenn man das reinbringt, sorgt es für einen Perspektivenwechsel. Konfuzius hat mal so schön gesagt: "Wir haben zwei Leben. Das zweite beginnt, sobald wir realisieren, dass wir nur eins haben". Und das ist natürlich, wenn man das an das Ende der eigenen Zeitlichkeit denkt, das hilft auch manchmal, um quasi bessere Zeit-Entscheidungen für das Leben zu fällen, wenn ich weiß, dass ich nicht ewig lebe, sondern dass meine Zeit hier irgendwann mal vorbei ist und jemand, der mit dem Tod konfrontiert wird und wurde, der kennt dieses Gefühl. Und ab und zu hilft es mal. Man kann auch vom Ende her denken und dann ändern sich manches ganz häufig. Dann wird also das ganze Thema, 'Was ist dann eigentlich wichtig in meiner Zeit', wird dadurch häufig ein bisschen verändert.
Sabine Lorenz: Total. Auch eine ganz tolle Coaching-Methode finde ich, dass man einfach mal anschaut, wie man auf sein Leben zurückblicken möchte und wie endlich das eigentlich ist. Das macht einem sehr viel bewusst. Jonas, ich glaube, wir kommen langsam ans Ende. 1000 Dank!
Jonas Geissler: Hoffentlich nicht an unser Ende, aber an das Ende dieses Gesprächs. Aber das Ende ist ja der Anfang von der anderen Seite, also ich bin gespannt, was alles anfängt, dadurch, dass wir dieses Gespräch jetzt beenden.
Sabine Lorenz: Ich auch. Ich bedanke mich auf jeden Fall. Es war sehr, sehr spannend. Vielen Dank für deine Zeit heute und das ist mir so viele Tipps abholen durfte und wir uns so schön austauschen konnten über dieses wichtige Thema.
Jonas Geissler: Ganz gern. Danke dir für die Einladung und wer mit den Sachen, die jetzt hier, die zwischen uns entstanden sind, in Resonanz gehen möchte, kann das gerne tun. Ich mache nicht viel Social Media, aber immerhin habe einen LinkedIn-Profil. Da kann man sich vernetzen oder auch in Kontakt treten.
OUTRO: Wer die Gesellschaft verändern will, muss sie erreichen. Aber wie geht das eigentlich und was muss sich ändern? In diesem Podcast sprechen wir über Ideen und Themen, die uns inspirieren und die etwas bewegen. Jede Staffel neu, mal mit Gästen im Dialog und mal ganz anders. Das ist sprich!, der Podcast von neues handeln.