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„Infografiken können Erkenntnisse bringen, ohne sie auszuformulieren“

von Anne Schmidt

Wie kam es dazu, dass du dich auf Infografiken spezialisiert hast, Ole?

Infografiken haben mich schon an der Uni interessiert. Zuerst war es ein Spiel mit dem nüchternen Stil von Gebrauchsanweisungen, wie wir sie von IKEA kennen. Dann wurde es mir mehr und mehr wichtig, mich mit Inhalten zu beschäftigen und sie zu vermitteln. Ich war immer ein visueller Typ und wollte nicht „nur“ Sachen schön gestalten. Infografiken waren sozusagen die Schnittmenge dieser Interessen. Mein erstes Projekt mit Infografiken im Studium war ein Buch über Flugzeugentführungen, ein ernstes Thema. Ich habe es ziemlich trocken und dadurch auch ironisch dargestellt. Nach der Uni habe ich die Deutschlandkarten im ZEIT Magazin gestaltet. Das waren mit die ersten Infografiken in Deutschland, jenseits vom Wirtschaftsteil.

Was fasziniert dich an dieser Art der Darstellung?

Infografiken können demjenigen, der sie betrachtet, eigene Erkenntnisse bringen, ohne sie auszuformulieren. Jeder kann sich ein Bild machen und persönliche Schlüsse ziehen. Lange Recherchen, Datenberge, komplexe Zusammenhänge werden ohne Vorwissen in Sekunden verständlich.

Was macht eine gute Infografik aus?

Am wichtigsten ist natürlich, dass der Inhalt richtig vermittelt wird. Alles andere ist letztlich eine Stilfrage. Es gibt ein paar Regeln: Das menschliche Gehirn kann zum Beispiel maximal sechs Farben trennen. Also macht eine Karte mit eingefärbten Landkreisen mit mehr als sechs Schattierungen keinen Sinn. Piktogramme oder Icons, die nicht intuitiv sind, und die Betrachtenden bei der Legende „zurückübersetzen“ müssen, bringen auch nichts. Inhalte können auf ganz unterschiedliche Arten vermittelt werden. Entscheidend ist für mich, dass sie neutral vermittelt werden. Die Zahlen und Daten sprechen ja eigentlich für sich. Ein Diagramm, das zeigt, welche illegalen Spendengelder zu einer Partei geflossen sind, braucht keine Erklärung. Bei zwei verschieden großen Kreisen, einer steht für die Ausgaben für Bildung, der andere für Verteidigung, kann sich jeder selbst seinen Teil denken. 

Inhalte können auf ganz unterschiedliche Arten vermittelt werden. Entscheidend ist für mich, dass sie neutral vermittelt werden. Die Zahlen und Daten sprechen ja eigentlich für sich.

Wir arbeiten für das Magazin forschungsfelder mit dir zusammen. Wie kam dir zum Beispiel die Idee, tierische Nebenprodukte als Fleischwolf darzustellen?

Naja, es geht ja um die Restverwertung von Tieren. Da ist der Fleischwolf natürlich eine naheliegende Metapher. Außerdem zeigt er einen Prozess: Wie viel kommt oben rein, wie viel unten raus? Wofür werden die einzelnen „Stränge“ genutzt? Mit dem Fleischwolf lassen sich mehrere Informationen auf einem Bild darstellen: Wie hoch ist der Anteil von Schwein, Rind und Geflügel? Wie viel wird für welches Endprodukt benutzt? Welches Risiko bringt die Verwertung mit sich? Die Grafik hätte natürlich auch ohne den Fleischwolf funktioniert. Aber eine emotionale Ebene hilft, Informationen aufzunehmen und sich zu merken. Das kann auch ein Bild sein, an das man sich erinnert.

Infografik mit dem Titel „Bis auf die Knochen“ zur Vewertung von tierischen Nebenprodukten. Ein Fleischwolf zeigt die Anteile in verschiedenen Stränge, die farblich unterschiedlich eingefärbt sind.

Sind Kreisdiagramme der Albtraum eines Infografik-Gestalters?

Haha, nein! Kreisdiagramme sind eigentlich in sich perfekt. Jeder versteht sie – Viertel, Hälfte, Dreiviertel, lassen sich sofort erkennen. Generell sind Kreise schön. Der Albtraum sind 3-D-Kreisdiagramme, wie sie Word oder Excel ausspuckt.

Wie gehst du vor, wenn du eine Infografik entwickelst?

Zuerst muss ich natürlich selbst verstehen, worum es geht, was vermittelt werden soll und was die Daten hergeben. Danach überlege ich mir, wie ich die Grafik gestalte: Gibt es einen „Helden“, eine zentrale Information? Geht die These mit den Daten überhaupt auf? Anschließend mache ich ganz grobe Bleistiftskizzen, die den Seiten- und Grafikaufbau darstellen. In der Regel schicke ich diese Skizze dem Kunden, der dann „Ja“, „Nein“ oder „So, aber ein bisschen anders“ sagt. Dann folgen die nächsten Schritte, die Grafik nimmt schnell Form an. Details, Farben und Beschriftung kommen ganz zum Schluss. Aus so gut wie allen Zahlen lassen sich anschauliche Grafiken machen.

Wo liegen die größten Herausforderungen?

Wirklich wichtig ist, nicht „aus Versehen“ zu manipulieren oder die Daten falsch rüberzubringen. Geht es um Prozent? Einwohner*innen pro 1.000? Absolute Zahlen? Je nach Einheit kann die Grafik völlig anders wirken. Egal, wie die Gestaltung ist, die Inhalte müssen stimmen. Man muss sich auch klar sein, dass verschiedene Menschen die Grafik betrachten – viele ohne Vorwissen des Inhalts, viele ohne geschultes Auge für Infografiken. Oft finde ich meine Idee super und zeige den Entwurf schnell den Kolleg*innen aus dem Büro. Manchmal sagen sie: „Hä, verstehe ich überhaupt nicht“. Dann muss ich mir eingestehen, dass es auch andere so sehen werden. Ich habe zum Beispiel vor kurzem aus den Negativ-Räumen der Zähne eines Hai-Mauls die Zahl 30.000 geformt. So viele Zähne wachsen einem Hai im Leben nach. Meine Kollegin meinte: „Ah, schön, ein Hai! Wir müssen irgendwie noch die 30.000 einbauen“. Sie und viele andere haben die Zahl einfach überhaupt nicht erkannt.

Wirklich wichtig ist, nicht „aus Versehen“ zu manipulieren oder die Daten falsch rüberzubringen. Geht es um Prozent? Einwohner*innen pro 1.000? Absolute Zahlen? Je nach Einheit kann die Grafik völlig anders wirken.

Wie findest du ein gutes Gleichgewicht zwischen Ästhetik und Information?

Die Information geht immer vor. Würden zehn Gestalter*innen die Grafik mit den gleichen Zahlen gestalten gäbe es zehn verschiedene Lösungen. Mir sind Klarheit und Direktheit wichtig. Ich stehe nicht so auf „Zierde“. Klar finde ich spezielle Farben gut, spezielle Farbkombinationen. Ich versuche, Farben und Elemente zu reduzieren und zum Beispiel unsichtbare Achsen in die Grafik einzubauen. Manche Schriften gefallen mir mehr als andere. Ob damit die Informationen besser rübergebracht werden als mit unschönen Farben und Schriften vom Kindermenü der Speisekarte – ich weiß es nicht.

Wie lassen sich Infografiken vom Print zum Online-Bereich übertragen?

Das ist eine gute Frage. Die Antwort: Sehr schwer. Beim Print kann man mit den Augen nah rangehen und trotzdem die gesamte Seite überblicken. Es gibt relativ viel Platz für Zeitverläufe, Karten und so weiter. Kleine Schriften lassen sich gut lesen. Online gibt es die Range von Handy bis zum 30-Zoll-Bildschirm. Die meisten benutzen das Handy im Hoch-, den Laptop im Querformat. Auf dem Handy mit den Fingern zu zoomen, funktioniert nicht 1:1 auf dem Laptop. Was sich online am besten eignet, ist Informationen durch horizontales oder vertikales Scrollen zu lesen. Natürlich gibt es 1.000 Vorteile bei Online. Grafiken müssen nicht statisch sein, sie können sich bewegen, sich verändern. Wir können in die Zukunft und in die Vergangenheit reisen. Viel mehr Daten und vor allem Entwicklungen lassen sich darstellen.

Welches Projekt beschäftigt dich gerade?

Gerade habe ich ein großes Projekt abgeschlossen: den Klima-Atlas mit Luisa Neubauer und dem Daten-Journalisten Christian Endt. Mit 80 Grafiken zeigen wir einen Blick auf die Klimakrise. Dabei versuchen wir, positiv an die Sache ranzugehen, humorvoll und hoffnungsvoll. Klimaleugner*innen werden wir damit nicht erreichen. Aber wir zeigen, dass es um mehr geht, als Tofu zu essen und Fahrrad zu fahren.

Über Ole Häntzschel

Ole Häntzschel ist Grafikdesigner und Illustrator aus Berlin. Er studierte Visuelle Kommunikation an der Universität der Künste in Berlin sowie in Venedig, Zürich und Ann Arbor. Seine Infografiken erscheinen in zahlreichen Print-Magazinen. Ole Häntzschel illustrierte außerdem mehrere Bücher. Seine Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet. Hier geht es zu seiner Website.

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