Wie steht es um den Lokaljournalismus in den USA im Vergleich zu Deutschland?
Der Zustand des klassischen Lokaljournalismus in den USA ist deutlich schlechter als in Deutschland. Seit 2005 haben die USA über 3.000 Lokalzeitungen verloren. Das hat zu sogenannten Nachrichtenwüsten geführt: Regionen, in denen es keine lokaljournalistischen Angebote mehr gibt. In diesen Gebieten leben über 70 Millionen Menschen ohne Zugang zu lokalen Nachrichten aus ihrer Gemeinde. Studien zeigen, dass in Regionen ohne verlässliche lokale Informationsquellen die demokratische Teilhabe auf lokaler Ebene leidet, was zu wachsendem Fatalismus und einer Erosion der demokratischen Mitte führt. Zwar existieren dort noch Radiosender, doch diese berichten meist nur auf Ebene des Bundesstaats. Zudem sind rund zwei Drittel der Arbeitsplätze in Lokalredaktionen weggefallen. Deutschland ist zwar noch nicht an diesem Punkt, bewegt sich aber ebenfalls in diese Richtung.
Gibt es auch positive Entwicklungen zu beobachten?
Erfreulich ist, dass zunehmend neue digitale, gemeinwohlorientierte Lokalmedien entstehen, zum Beispiel Richland Source in Ohio oder Lookout Media in Santa Cruz und das Baltimore Banner. Richland Source erzielt Einnahmen durch die Lizenzierung seiner KI-gestützten Software, während die beiden anderen Medien bereits mit Pulitzer-Preisen für ihren investigativen Journalismus ausgezeichnet wurden. Das sind längst keine Experimente mehr, sondern ernstzunehmende Akteure auf den lokalen Medienmärkten. Allerdings sind solche Erfolgsgeschichten bislang noch selten.
Wie nutzen Lokalredaktionen in den USA derzeit Künstliche Intelligenz? Welche Rolle spielt sie im journalistischen Alltag?
Ich schätze, dass über 80 Prozent der Journalist*innen bereits beruflich mit KI experimentiert haben. In lokalen Redaktionen werden KI-Tools vielseitig und ohne großen Kosten- und Einarbeitungsaufwand eingesetzt, da sie oft intuitiv bedienbar und in der Basisversion kostenlos sind. Typische Anwendungen sind SEO-optimierte Überschriften, Textvorschläge in internen Kommunikationskanälen wie Slack, KI-gestützte Recherchetools sowie automatisch verfasste Newsletter.
„KI ersetzt den Journalismus nicht, verändert aber den Alltag in den Redaktionen.“
Ulrike Langer
Einige Praxisbeispiele aus den USA zeigen, wie das konkret aussehen kann. Die Redaktion rund um USA Today nutzt ein internes Tool namens ‚Espresso‘, das automatisch verwertbare Infos aus Vereinsmitteilungen oder Gemeinde-News herausfiltert. In Ohio lässt Richland Source Sportberichte zu High-School-Spielen von einer eigens entwickelten KI schreiben, da es schlichtweg nicht möglich ist, jedes Spiel journalistisch zu begleiten. Die Online-Zeitung ARLnow nahe Washington nutzt KI zum Gegenlesen und zum automatisierten Posten von Artikeln in sozialen Netzwerken. Kurz gesagt: KI ersetzt den Journalismus nicht, verändert aber den Alltag in den Redaktionen.
Inwiefern kann KI die Tiefe und Vielfalt der lokalen Berichterstattung erhöhen – insbesondere bei Nischenthemen mit kleinen Zielgruppen?
Gerade bei Nischenthemen oder in Regionen ohne klassische Lokalredaktionen, wie sie in den USA mittlerweile häufig vorkommen, kann KI eine zentrale Rolle spielen. In der Vergangenheit war Lokaljournalismus oft wirtschaftlich nicht tragfähig, da die Zielgruppen zu klein waren. Heute lassen sich mithilfe von KI aus öffentlichen Datenquellen wie Schulbudgets oder Polizeieinsätzen automatisch verständliche Texte generieren. Ein gutes Beispiel ist das Medienunternehmen Patch, das mithilfe von KI täglich zehntausende lokale Newsletter verschickt – auch in Gemeinden, in denen keine Reporter*innen mehr vor Ort sind. So trägt KI dazu bei, lokale Informationslücken zu schließen.
„Früher war Lokaljournalismus oft wirtschaftlich nicht tragfähig, da die Zielgruppen zu klein waren. Heute lassen sich mit KI aus öffentlichen Daten automatisch verständliche Texte generieren.“
Ulrike Langer
Können kleine und mittlere Lokalredaktionen von diesen Entwicklungen profitieren?
Ja, definitiv. Auch in Deutschland setzen kleine und mittlere Lokalredaktionen bereits KI ein, zum Beispiel für Textkürzungen, Überschriften, Teaser oder sogar für automatisierte Print-Layouts. Ein konkretes Beispiel ist die Mainpost in Nürnberg, die KI aktiv in ihren Redaktionsprozessen integriert hat. Die Technologie übernimmt vor allem repetitive Aufgaben und verschafft den Redaktionen dadurch mehr Freiraum für inhaltliche Arbeit. Deutschland hinkt bei der KI-Anwendung nicht hinterher. Zwar sind viele Tools auf Englisch ausgelegt, aber besonders bei Prozessen im Hintergrund spielt die Sprache oft nur eine untergeordnete Rolle. Insgesamt ist der Trend also auch in Deutschland spürbar.
Vor welchen Hürden stehen Journalist*innen beim Einsatz von KI in der redaktionellen Arbeit?
Eine der größten Hürden in Deutschland ist der Datenschutz. Während in den USA viele öffentliche Daten frei zugänglich sind, ist die Datengrundlage hier deutlich dünner – auch wegen der DSGVO, der Datenschutzgrundverordnung. Das erschwert datengetriebene KI-Anwendungen erheblich. Außerdem hängt der Einsatz von KI in Redaktionen oft stark von der Unternehmenskultur ab. Fehlt der Rückhalt aus der Chefredaktion oder Geschäftsführung, bleiben viele Initiativen auf das Engagement einzelner Personen beschränkt und stoßen schnell an ihre Grenzen.
Welche Haltungen gibt es in den Redaktionen?
Sehr unterschiedliche – manche sind offen und neugierig, andere fühlen sich vom Innovationstempo überfordert oder betrachten jedes neue Tool als kurzfristige Modeerscheinung. Deshalb ist es wichtig, KI nicht einfach top-down einzuführen, sondern gemeinsam im Team zu überlegen: Welche Routineaufgaben kosten uns Zeit? Und: Wie kann KI uns konkret unterstützen? Dieser Ansatz fördert nicht nur die Akzeptanz, sondern macht den Nutzen auch unmittelbar spürbar.
Mit Blick auf die nächsten Jahre – wie wird sich der Einsatz von KI im Lokaljournalismus weiterentwickeln? In den USA, aber auch bei uns in Deutschland?
Wir stehen erst am Anfang einer dynamischen Entwicklung. Es erscheinen laufend neue KI-Tools – in einem Tempo, das kaum noch überschaubar ist. Das wird noch eine Weile so weitergehen. Danach rechne ich mit einer Phase der Konsolidierung. Viele kleine Anbieter entwickeln Tools mit dem Ziel, sie später an größere Unternehmen zu verkaufen. Ein bedeutender Trend sind zudem KI-Agenten, die künftig ganze Aufgaben wie Einkäufe oder Reisebuchungen eigenständig übernehmen werden. Wirklich besorgniserregend ist der Umgang großer KI-Unternehmen mit journalistischen Inhalten. Dieses Thema betrifft nicht nur den Lokaljournalismus, sondern den gesamten Medienbereich. Diese Systeme saugen Inhalte aus dem Netz, ohne Rücksicht auf Urheberrecht oder Bezahlschranken. Zwar laufen bereits Gerichtsverfahren, doch das grundlegende Problem bleibt: KI-Modelle werden mit Inhalten trainiert, für die Medien keine Gegenleistung erhalten.

„Wirklich besorgniserregend ist der Umgang großer KI-Unternehmen mit journalistischen Inhalten. Dieses Thema betrifft nicht nur den Lokaljournalismus, sondern den gesamten Medienbereich.“
Ulrike Langer
Was bedeutet diese Entwicklung für die Öffentlichkeit? Wird diese künftig noch erkennen können, woher eine Information stammt?
Viele Nutzer*innen verlassen sich mittlerweile auf KI-Zusammenfassungen, statt selbst die Originalquellen zu lesen. Selbst wenn Quellen angegeben sind, klicken sich viele nicht mehr durch. Dadurch geraten Reichweite, Werbeeinnahmen und Abo-Modelle unter Druck. Letztlich könnten sich KI-Systeme ihre eigene Grundlage entziehen: Wenn sich Qualitätsmedien nicht mehr finanzieren können, weil Nutzer*innen nur noch KI-generierte Antworten konsumieren, verarmt der gesamte Informationspool. Das ist eine Entwicklung, die uns im Journalismus beschäftigen sollte.
Über Ulrike Langer
Ulrike Langer ist Medieninnovations-Journalistin und -Beraterin in Seattle, USA. Ihre Schwerpunkte liegen auf technologiegetriebenen Entwicklungen im Journalismus und neuen Medien-Geschäftsmodellen. Sie schreibt für Fachzeitschriften, gibt Online-Seminare und hält Vorträge auf Medienkonferenzen. In ihrem kostenlosen Newsletter News Machines präsentiert sie wöchentliche Fallstudien zum Einsatz von KI in US-Medien.