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Wie entstehen Barrieren in den Köpfen? Über Geschlechter-Binarität und Vielfalt

Podcast von Levi Kersting

In der dritten Folge der Staffel „Barrieren“ betrachtet Redakteur*in Levi Kersting Barrieren in unseren Köpfen. Warum denken viele von uns nach wie vor in zwei Geschlechtern? Welche Herausforderungen begegnen Menschen im Spannungsfeld zwischen Identität und gesellschaftlichen Erwartungen?

Darüber spricht Levi mit Dr. Dirk Schulz, Geschäftsführer von GeStiK – dem Bereich Gender Studies in Köln. Weitere Gäst*innen sind Gründer*in und Politfluencer*in Beccs Runge von Minzgespinst sowie Julian und Kajus.

Transkript

Levi: Herzlich willkommen zurück bei sprich! – dem Podcast von neues handeln. Ich bin Levi Kersting und in dieser Staffel habe ich über räumliche und sprachliche Barrieren gesprochen. Jetzt möchte ich den Blick noch mal nach innen richten: Ich möchte wissen, was Barrieren in den Köpfen machen. Um herauszufinden, wie Barrieren in den Köpfen entstehen und was sie bewirken, spreche ich mit Menschen, die mit ihrer Identität oder Sexualität nicht der „Norm“ entsprechen. Das Wort „Norm“ steht hierbei dick in Anführungszeichen.

Was sind Barrieren in den Köpfen? Damit meine ich Barrieren, die durch unsere Sozialisation entstehen. Also: Wie wir aufgewachsen sind und welche Werte und Normen wir von unserer Familie, unserem Umfeld und westlich geprägten Gesellschaften gelernt haben. Viele von uns sind mit der Annahme aufgewachsen, dass es zwei Geschlechter gibt: Mann und Frau. Und noch ein paar von uns sind damit groß geworden, dass es normal ist, dass sich diese beiden zueinander hingezogen fühlen. Hierfür gibt es auch einen Begriff: Binarität, also Zweiteiligkeit oder eben Zweigeschlechtlichkeit. Über die genaue Bedeutung und warum das eine Barriere sein kann, habe ich mit Dr. Dirk Schulz gesprochen, Lehrperson im Master Gender- und Queer Studies der Universität zu Köln und Technischen Hochschule Köln. Außerdem ist er Geschäftsführer von GeStiK – Gender Studies in Köln.

Dirk Schulz: Geschlechts-Binarität bedeutet die Annahme, dass es zwei Geschlechter gibt. Dass das die Natur so eingerichtet hat oder es in der Natur angelegt ist. Und diese beiden Geschlechter sind Mann und Frau oder werden in unserer Sprache Mann und Frau genannt.

Levi: Aber ist das wirklich so normal? Nach der Ipsos Pride Studie aus 2023 identifizieren sich 11 % der Menschen in Deutschland als queer, also der LGBTIQ-Community angehörig. Das ist jede zehnte Person. Bei der Gen Z, also Menschen, die 1997 oder später geboren wurden, ist sogar mehr als jede fünfte Person queer. Kann so ein zweigeschlechtliches Denken dann nicht für viele einschränkend sein?

Dirk Schulz: Ja, das kann auf jeden Fall sein, dass das Einschränkungen mit sich bringt. Neuere Erkenntnisse oder der Blick in andere Kulturen oder auch historische Zeiten zeigen deutlich, dass diese Annahme der Zweigeschlechtlichkeit oder Geschlechts-Binarität eine soziale historische Konstruktion ist und dass diese Zweigeschlechtlichkeit ja wenig Spielraum lässt. Das schränkt uns alle insofern ein, dass mit dieser Geschlechts-Binarität und Zweigeschlechtlichkeit auch sehr viele Erwartungen verknüpft sind, wie ein Mann oder eine Frau zu sein hat. Insofern würde ich sogar sagen, ist diese Vorstellung für alle einschränkend.

Levi: Geschlechtlichs-Binarität ist für uns alle einschränkend. Damit hat bestimmt jede Person schon Erfahrungen gemacht. Männer in sogenannten Frauen-Jobs, Frauen, die keine Kinder haben wollen oder ganz einfach Kleider oder kurze Haare tragen. Aber woher kommen diese Annahmen, dass es klare Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt?

Dirk Schulz: Also diese ganz starke Prägung ist, dass uns klar ist und auch als Kindern schon sehr früh vermittelt wird, dass es Jungen und Mädchen gibt. Schon bevor ein Wesen auf diese Welt kommt, wird es mit Gedanken und Erwartungen, Hoffnungen, Ängsten begleitet. Wird es ein Junge oder ein Mädchen? Das zeigt schon, wie zentral dieser Gedanke ist. Da würde ich immer wieder die Frage stellen: Warum ist das so wichtig? Und welche Erwartungen und Hoffnungen knüpft ihr daran? Und wenn die Kinder nicht diesen Erwartungen und Hoffnungen entsprechen, passiert eben ganz oft ein Versuch der Korrektur.

Levi: Wie fühlen sich Leute, die gar nicht in diese Zweigeschlechtlichkeit reinpassen? Darüber habe ich mich mit Julian und Kajus unterhalten, zwei nichtbinäre und trans Personen.

Kajus: Ich glaube, das Gefühl war eigentlich die ganze Zeit in meinem Leben präsent. Es hat mich immer begleitet. Also ich erinnere mich ganz stark an eine Situation in der Kindheit: Ich bin mit meinem Papa immer gerne schwimmen gegangen und am Anfang habe ich immer gesagt, ich möchte mit in die Männer-Umkleide gehen. Und dann irgendwann kam das Gefühl: Ich fühle mich irgendwie nicht so ganz passend. Ich gehe mal in die Frauen Umkleide. Da war das Gefühl dann aber genau gleich und ich habe gedacht okay, dann gibt es einfach gar keine Umkleide für mich, das kann ja nicht sein. Dadurch habe ich so das erste Mal irgendwie für mich gemerkt: Okay, irgendwas ist anders. Aber ich wollte zu dem Zeitpunkt gar nicht anders sein oder irgendwie herausstechen. Deswegen habe ich das sehr viele Jahre auch erst mal für mich behalten.

Levi: Kajus ist nonbinary, also nichtbinär. Nichtbinäre Personen ordnen ihre geschlechtliche Identität, also ihre Gender-Identität, nicht als männlich oder weiblich ein. Sondern, einfach ausgedrückt, abseits davon oder irgendwo dazwischen. Um sich das besser vorzustellen: Nichtbinarität kann man unter das trans Spektrum fassen. Eine Person ist trans, wenn sie sich mit dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht nicht identifizieren kann. Auch Julian kennt das Gefühl, das Kajus mir beschreibt.

Julian: Bei mir fing das damals alles mit der Pubertät an. Da habe ich gemerkt, dass mein Körper sich in die komplett falsche Richtung entwickelt und ich mich damit einfach nicht wohlgefühlt habe. Und wusste aber auch ganz, ganz lange überhaupt nicht, was das ist. Bei uns in der Schule haben wir das nicht gelernt und auch sonst kannte ich das einfach nicht. Ich wusste nicht, was „trans“ ist und dass es sowas überhaupt gibt. Es hat noch einige Jahre gedauert, bis ich das dann rausgefunden habe.

Levi: Hier klingt schon an, wieso die erlernte Binarität eine Barriere sein kann: Fehlendes Wissen und fehlende Information. Wenn wir alle so erzogen werden, dass es Mann und Frau gibt und an diese Geschlechter auch noch bestimmte Erwartungen geknüpft werden, wie sollen Menschen herausfinden, wer sie wirklich sind? Besonders, wenn sie nicht in dieses System hineinpassen?

Kajus: Ich habe lange versucht, mich einfach anzupassen und überhaupt gar nicht mit dem Thema auseinanderzusetzen. Nicht mit meiner Identität und auch nicht mit meiner Sexualität. Die ganze Struktur ist auf Binarität ausgelegt und nicht auf Nichtbinarität. Deswegen ist Nichtbinarität so schwer greifbar. Du hattest es eben auch schon erwähnt, dass es in der Schule leider auch nicht beigebracht wurde. Und ich hatte auch nie Kontakt mit diesen Themen, weder in der Schule noch in meiner Jugend. Ich bin auch ein bisschen ländlicher aufgewachsen. Das kommt vielleicht auch noch hinzu. Ich hatte nie Kontakt zu diesen Themen. Wenn man einfach das Gefühl hat, man fühlt sich anders, aber kann es selbst nicht definieren, dann habe ich mich immer gefragt: Wie soll ich das dann einem anderen Menschen erklären, wenn ich es mir nicht einmal erklären kann? Und ich glaube, je gefestigter ich in mir wurde, desto gefestigter wurde auch mein Umfeld, weil mein Umfeld verstanden hat: Ah, Nichtbinarität ist eigentlich gar nicht so schlimm, sondern das ist einfach Kajus, so wie Kajus schon immer war.

Levi: Auch Beccs hat mit mir über Barrieren in den Köpfen gesprochen. Beccs kennen einige von euch vielleicht besser unter Minzgespinst, einer Plattform für Sensibilisierung und Empowerment. Beccs berät und informiert über Inklusion und Geschlechtergerechtigkeit mit Fokus auf trans Geschlechtlichkeit und Autismus.

Beccs Runge: Ich glaube, eine der größten Barrieren im Kopf hatte ich am Anfang bei mir selbst. Ich habe mich das erste halbe Jahr konsequent regelmäßig misgendered [mit den falschen Pronomen angesprochen], weil ich erst einmal umdenken musste. Darüber, dass ich jetzt ja auch andere Pronomen für mich selbst benutze. Und das ging aber danach auch. Also, mittlerweile passiert mir das gar nicht mehr und ich bin auch flüssig darin, die Pronomen anderer Leute zu benutzen. Das heißt, das war eine Barriere, die ich tatsächlich auch einfach überwinden konnte. Andere Barrieren sind aber auch, dass Menschen mich sehen und mich immer automatisch in eine Schublade einordnen müssen. Entweder ich bin männlich oder ich bin weiblich. Ich bin trans, ich bin nichtbinär-trans. Ich mache Bildungsarbeit im Bereich trans und Nichtbinarität. Und trotzdem passiert es immer wieder, dass Menschen zu mir kommen und so sind: Was bist du denn jetzt wirklich?

Levi: Aber nicht nur im privaten Umfeld bringt dieses Denken in zwei Geschlechtern Probleme. Auch im Alltag kommt es immer wieder zu Situationen, in denen Beccs sich erklären muss oder irgendwelche bürokratischen Dinge durcheinanderkommen und viel länger dauern.

Beccs Runge: Und im Alltag merke ich vor allen Dingen, dass gerade die Anrede etwas ist, das immer wieder und wieder für Verwirrung sorgt. Ich kann nirgendwo hingehen, wo ich meine Daten angeben muss und um dieses Thema „Sind Sie jetzt eher männlich oder weiblich?“ herumkomme. Weil ich bei meiner Bank ein anderes Geschlecht angeben musste, als ich beispielsweise gegenüber dem Finanzamt habe und wieder ein anderes Geschlecht bei irgendwelchen Organisationen habe, die einfach für sich beschlossen haben, welches jetzt die passendere Sache sei.

Und das führt dann dazu, dass Dokumente nicht übereinstimmen, dass ich mehr darüber reden muss, dass ich beweisen muss, dass ich wirklich die Person bin, die ich bin. Dass ich sehr, sehr lange in der ersten Zeit diesen Zettel mithatte, auf dem die rechtliche Änderung des Personenstands draufstand, damit ich beweisen konnte, dass ich wirklich auch die Person bin, deren Daten da jetzt eingegeben wurden. Und da merke ich dann, dass wir einfach, auch wenn wir diese Personenstände in Deutschland haben, also männlich, weiblich, divers und gestrichen, trotzdem noch nicht so weit sind, diese auch gesellschaftlich so zu verankern. Dass wir Menschen nicht mehr automatisch in Schubladen stopfen, in die sie vielleicht weder hineingehören noch in denen sie sein wollen. Und da merke ich dann einfach, dass häufig schon da losgeht, dass Menschen einfach ihre Schubladen gefüllt haben wollen.

Aber es kann halt auch gefährlich werden, wenn beispielsweise meine Dokumente nicht übereinstimmen, weil es nur die Anrede oder den Geschlechtseintrag männlich und weiblich gab und das dann mit meinen Dokumenten, in denen divers steht, nicht übereinstimmt. Oder auch wenn Menschen der Meinung sind, dass ich medizinische Versorgung nur dann verdient habe, wenn ich besonders männlich oder besonders weiblich performe und es dadurch eben auch schon zu Fehldiagnosen gekommen ist. Oder es ist dazu gekommen, dass ich nicht medizinisch richtig behandelt wurde, weil es Leuten viel wichtiger war, irgendwelche Fragen über meine Genitalien zu stellen, als sich mit dem Thema, mit welchem ich zum Arzt gegangen bin, zu beschäftigen.

Levi: Aber wieso ist es eigentlich so, dass wir so sehr in zwei Geschlechtern denken? Dafür gibt es tatsächlich einen Begriff oder eher einen Erklärungsansatz: Heteronormativität.

Dirk Schulz: Heteronormativ heißt, dass wir die Annahme haben, dass es Mann und Frau gibt und dass es deswegen Mann und Frau gibt, weil sie nur in dieser Konstellation Reproduktion ermöglichen und wir das auch als ein Naturgesetz verstehen. Also immer, wenn argumentiert wird, dass das in der Natur so angelegt sei und sonst gäbe es keine Nachkommenschaft, wenn es nicht Mann und Frau gäbe, dann ist das so eingeschrieben. Und Heteronormativität macht eben auch noch mal darauf deutlich: Das sind nicht nur die Gründe, warum es Männer und Frauen und Heterosexualität gibt, sondern eben auch, warum wir queere Menschen als eine Abweichung von dieser Norm verstehen. Als Minderheit oder Minderheitengruppen, die sich zwar vervielfältigen, die aber immer noch in dieser Heteronormativität bleiben. Darum bleibt das alles immer unter dem Diskurs von Minderheiten und Identitätspolitik in Bezug auf Minderheiten.

Und das ist genau diese heteronormative Annahme, dass Heterosexualität sozusagen auch auf Seiten des Naturgesetzes steht. Und bei homosexuellen Menschen wird immer noch geforscht: Gibt es da ein Gen, das dafür verantwortlich ist? Also auch das zeigt dieses heteronormative Denken und da wäre dann die Frage: Warum sollen wir das überhaupt finden? Oder warum müssen sich queere Menschen erklären? Warum brauchen queere Menschen ein Coming-Out? Die Annahme der Heterosexualität ist so stark und so normal, dass Menschen, die anders empfinden, anders begehren, sich anders in Bezug auf Gender identifizieren, immer wieder dieses Coming Out haben müssen. Sie müssen sich immer wieder eben benennen und labeln: „Übrigens, ich bin nicht das, was angenommen wird. Da gehöre ich nicht zu oder da schreibe ich mich selber nicht zu.“

Levi: Es gibt Mann und Frau und diese fühlen sich zueinander hingezogen. Dass das nicht für alle Menschen passt, ist inzwischen bekannt. Der Diskurs besteht schon lange und wurde spätestens durch Philosoph*in Judith Butler bekannt. In deren Texten wird die Natur Gegebenheit der Binarität, also der beiden Geschlechter Mann und Frau hinterfragt. Die These: Binarität ist kulturell entstanden, also menschengemacht.

Und das macht auch Sinn, denn die Zweigeschlechtlichkeit ist nicht überall auf der Welt selbstverständlich. In Afrika, Asien, Süd bis Nordamerika und auch in Teilen Europas gibt und gab es schon immer Gesellschaften mit mehr als zwei Geschlechtern. Bei vielen indigenen Stämmen Nordamerikas gibt es drei bis fünf Geschlechterrollen. Trans Menschen werden zum Beispiel im Kamasutra erwähnt, und das wurde irgendwann zwischen 200 und 300 nach Christus geschrieben.

Ethnolog*in Carla LaGata erklärt hierzu, dass gerade die Kolonialisierung viele solcher kulturellen Vielfalten ausgelöscht hat. Die Zweigeschlechterordnung ist also ein westliches Modell, was in den letzten 500 Jahren verbreitet wurde. Doch auch in der westlichen Kultur gibt es Beispiele, sogar religiöse: In der Antike wurde Nichbinarität als seelisches Geschlecht gesehen, das vom körperlichen Geschlecht abwich. Und auch in Sagen des Altertums lassen sich Beispiele dafür finden.

Zurück zur Binarität. Wir wissen inzwischen, dass Zweigeschlechtlichkeit westliches Denken ist. Aber wieso ist es so tief in uns verankert? Und wieso ist es so schwer, abseits dieser zwei Kategorien zu denken?

Dirk Schulz: Ich verstehe durchaus, dass diese Prägung, die wir alle erfahren, und diese Disziplinierung hin von frühesten Kindheitstagen zu männlich und weiblich, so eine tragende, zentrale Rolle in unserer Gesellschaft spielt. Dass das so eine Art von Naturgesetz zu sein scheint, das schwer zu hintergehen ist oder die Menschen, die aus diesem Naturgesetz fallen, erstmal mit komischen Augen betrachtet werden. Wir sind damit aufgewachsen. Es ist jetzt seit einigen Jahrzehnten, vielleicht Jahrhunderten in unserer westlichen europäischen Kultur verankert, dass es Mann und Frau gibt und dass das so klar und eindeutig wäre.

Levi: Schon im Kleinkindalter wird eine Einteilung in zwei Geschlechter vorgenommen. Viele Kinder fühlen sich mit gleichgeschlechtlichen Spielpartner*innen wohler, doch weitaus nicht alle. Und auch das kommt nicht zwangsläufig komplett von innen heraus, denn eine Einteilung in Jungen und Mädchen geht schon bei Neugeborenen vonstatten. So wird ein dunkleres Schreien eher Jungen zugeordnet und ein helleres eher Mädchen, obwohl es keinen nachweislichen Unterschied gibt.

Häufig machen Eltern beim Vorlesen bewusst oder unbewusst genderstereotype Bemerkungen gegenüber ihren Kindern. Viele Eltern reagieren auch eher zurückhaltend darauf, wenn die Kinder geschlechtsuntypische Verhaltensweisen an den Tag legen, auch wenn es gar nicht böse gemeint ist. So lernen Kinder schon im Kleinkindalter, welches Verhalten welchem Geschlecht zugeordnet wird und passen sich an. Das zieht sich durch die ganze Kindheit und Jugend bis ins Erwachsenenalter.

Julian: Als ich damals meine ganzen Sachen für die Transition gemacht habe, brauchte man für die Medikamente ein Gutachten und nachher für die Namens- und Personenstandsänderung auch. Um die zu bekommen, war ganz klar, dass man sich als Mann auch männlich geben muss. So wie das Klischee für Männer ist. Schön breitbeinig sitzen, kurze Haare, passende Klamotten. Mit einem Psychiater habe ich mich ewig lange über Fußball unterhalten und ich habe keine Ahnung von Fußball.

Levi: Als ich mit Julian und Kajus gesprochen habe, war das Selbstbestimmungsgesetz (SBGG) noch gar nicht durch. Dieses wurde am 12. April 2024 beschlossen und trat am 1. November in Kraft. Mit dem neuen Gesetz können trans, intergeschlechtliche und nichtbinäre Menschen ihren Namen und ihren Geschlechtseintrag mit einer Erklärung beim Standesamt ändern lassen. Damit wurde für sie eine wahnsinnig große Barriere abgebaut.

Nach dem Transsexuellengesetz (TSG) nämlich, das noch bis zum 1. November galt, mussten zwei psychiatrische Gutachten vor Gericht vorgelegt werden. In einem persönlichen Gespräch mit demder Richterin wurde dann über den Antrag entschieden. Das Ganze kostete nicht nur durchschnittlich 2.000 Euro, sondern war langwierig und für viele Menschen psychisch belastend. Die Gutachter*innen bewerteten den äußerlichen Eindruck der antragstellenden Person und stellten Fragen, die teilweise sehr in die Privatsphäre eingriffen.

Doch der Geschlechtsausdruck ist sehr subjektiv. Für trans Menschen konnte so eine Einteilung im schlimmsten Fall bedeuten, dass ihr Geschlecht von den Gutachter*innen nicht anerkannt wurde, wenn das Verhalten nicht den an die Geschlechterrollen geknüpften Erwartungen entsprach.

Auch ohne das TSG stoßen trans und nichtbinäre Menschen immer wieder auf Unverständnis oder Ablehnung, da ihr Geschlecht in den meisten Fällen eben keiner vermeintlichen Geschlechterrolle entspricht. Das führt im Alltag immer wieder zu bürokratischen Hürden, aber auch die medizinische Versorgung kann darunter leiden.

Julian: Eine Sache fällt mir ein: Das war nach einer OP. Da hätte ich eigentlich einen Kompressionsstrumpf für meinen Arm bekommen sollen. Ich war dann mit dem mit dem Rezept dafür bei meiner Hausärztin. Da hieß es dann nur, das war ja eine Schönheitsoperation. Also das wird bei denen als Schönheits-OP kategorisiert und nicht als medizinisch notwendig. Und deswegen habe ich das dann nicht bekommen. Ich musste mich dann sehr lange mit meiner Krankenkasse auseinandersetzen, die allerdings sehr unterstützend waren. Aber es hat dadurch einfach sehr viel länger gedauert.

Levi: Leider herrscht aktuell noch immer viel Unwissen in Bezug auf geschlechtersensible Medizin. Das liegt daran, dass in den Gesundheitswissenschaften Frauen historisch vernachlässigt und trans, intergeschlechtliche und nichtbinäre Menschen weitestgehend ignoriert wurden. Diese Lücke in der Forschung nennt sich Gender Data Gap, also Geschlechter-Datenlücke. Geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Datenerhebung können gerade in medizinischen Behandlungen fatale Folgen für die Betroffenen haben.

Auch innerlich, also quasi in den Köpfen, bestehen viele Barrieren, die durch die Sozialisation entstanden sind und die viele Menschen davon abhalten, sich mit ihrer Geschlechtsidentität auseinanderzusetzen oder sie zu erkennen.

Kajus: Bei mir war es lange Zeit so, dass ich trotzdem noch immer diese Glaubensmuster im Kopf hatte: „Ich darf das nicht ausleben.“ Und ich glaube, das hatte den tiefen Ursprung in: „Ich darf eigentlich nicht hier sein, weil es nur Mann und Frau gibt.“ Es gibt so viele Facetten und wenn ich einen Menschen sehe, dann kann ich ihn doch nicht an einer bestimmten Sache oder an einem bestimmten Merkmal festmachen und sagen, dass ich diesen Menschen kenne. Das ergibt für mich überhaupt keinen Sinn.

Deswegen finde ich es so wichtig, da auch die eigene Perspektive zu erweitern und zu schauen: Wie fühle ich mich denn, wenn ich mir alles erlaube, zu sein? Und bis zu diesem Punkt war ich mein größter Feind. Das kann ich so sagen. Und definitiv war ich meine größte Barriere und deswegen alles, was von außen an Barrieren auf mich zukommt. Manchmal reagiere ich tatsächlich in schlimmen Situationen mit einem Lachen. Und das mag sich für manche ganz komisch anhören. Es ist tatsächlich aber die Erleichterung darüber, dass ich für mich festgestellt habe: Ich habe mich nicht mehr als Feind und das ist so eine große Last weniger.

Levi: Die eigenen Feindbilder hinterfragen und einen Perspektivwechsel versuchen. Das sind gute Stichwörter, um Barrieren für Menschen abzubauen, die nicht in das binäre System passen. Es ist natürlich schwierig, umzudenken und abseits unseres erlernten Systems zu denken. Aber wissenschaftlich und historisch zeigt sich eben, dass Geschlecht mehr Ebenen als die körperlichen Gegebenheiten hat. Und sogar hier gibt es mehr als zwei Kategorien.

Dirk Schulz: Also auch die Medizin ist heute, ich würde sagen, mehrheitlich der Überzeugung, dass Geschlecht ein Spektrum darstellt. Und wenn wir uns das vorstellen, macht es glaube ich noch mal sehr viel mit der Vorstellungskraft von uns und auch mit der Frage von Zuordnungen und Zuschreibungen. Das [Geschlecht] vielleicht nicht so hart und eindeutig und klar zu fassen, sondern eher, das sage ich zu meinen Studierenden immer gerne, elastischer zu machen. Auch dieses Insistieren darauf. Ich glaube, damit wäre schon viel gewonnen.

Levi: Chefärztin und Psychiaterin Dagmar Pauli schreibt in ihrem Buch Die anderen Geschlechter:

„Der wichtigste Schritt auf dem Weg zur Gleichheit aller Geschlechter ist die Bejahung der Diversität und Vielfalt. Es geht um mehr als Toleranz. Es geht darum, den Menschen als Mensch zu begreifen, der unabhängig von einer Zuteilung existiert und sich individuell entwickelt.“

Ich nehme aus dieser Folge und generell dieser Staffel mit: Wenn Diversität als naturgegeben angenommen wird, können viele Barrieren, die Menschen daran hindern, ihre eigene Identität zu entdecken und auszuleben, abgebaut werden.

In diesem Sinne – bleibt neugierig und offen und versucht, andere Perspektiven einzunehmen. Bis zum nächsten Mal bei sprich! – dem Podcast von neues handeln.

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