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„Kompromisse werden je nach Kultur und Epoche anders bewertet“ Ulrich Willems im Interview

von Liane Unteregger

Sie arbeiten aktuell in einem neuen Forschungsverbund „Kulturen des Kompromisses“. Wie ist es dazu gekommen?

Unterschiedliche Beobachtungen haben uns dazu gebracht, dieses Forschungsprojekt anzugehen. Die erste war, dass der Kompromiss eine der wichtigsten Techniken für die Regelung sozialer Konflikte ist. Welche Beziehung oder Familie kommt schon ohne Kompromisse aus? Ohne sie geht es in sozialen Gefügen einfach nicht. Trotz der immensen Bedeutung dieser Konfliktregelungstechnik gibt es überraschend wenig Forschung dazu. Zudem stellten wir mit Blick auf aktuelle gesellschaftliche und wissenschaftliche Diagnosen fest, dass es Grund zur Sorge gibt, die Bereitschaft, vielleicht aber auch die Fähigkeit zum Kompromiss in modernen Gegenwartsgesellschaften nähme ab. Das wäre eine hochproblematische Entwicklung. Zudem gibt es im Vergleich von Epochen und Kulturen eine sehr unterschiedliche Wertschätzung von Kompromissen.

Inwiefern?

In Deutschland am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts galten Kompromisse als verweichlicht, denn es ging um Prinzipienfestigkeit. Im Gegensatz dazu wurden sie in Großbritannien zur selben Zeit als Instrument für Verhandlungen sehr geschätzt. Die japanische Kultur setzt seit jeher stark auf Konfliktvermeidung: Wir vermuten zudem, dass Konflikte dort stärker über Hierarchie und Seniorität geregelt werden.

Was wollen Sie in dem Projekt erreichen?

Wir untersuchen die sozioökonomischen, politisch-rechtlichen und kulturellen Bedingungen für Kompromisse. Auch deren Wertschätzung und Funktionsfähigkeit nehmen wir in den Blick. Dabei werden wir vor allem Unterschiede innerhalb westlicher Gegenwartsgesellschaften, im Epochenvergleich und im Kulturvergleich mit einem Fokus auf Israel und Japan analysieren. Wir wollen nicht nur mehr über die jeweiligen Bedingungen lernen, sondern auch herausfinden, ob und wie sie sich möglicherweise verändern lassen. Das ist unsere Anbindung an die Praxis: Wir möchten Wissen generieren, das in unterschiedlichen Feldern umgesetzt werden kann – von der Politik bis in die Schulen.

Wo liegen Ihrer Meinung nach potenzielle Gefahren, Grenzen oder Probleme des Kompromisses?

Tatsächlich gibt es ein paar grundlegende Problemstellungen dieser Konfliktregelungstechnik. Die erste lautet Prinzipienfestigkeit. Denn wer Kompromisse macht, verrät seine Prinzipien. Dies spielt auch in der Politik eine Rolle. Wenn Vertreterinnen oder Vertreter von Konfliktparteien Kompromisse erzielen, müssen sie damit rechnen, dass ihnen die entsprechende Klientel vorwirft, ihre Prinzipien oder ihre Überzeugung verraten zu haben. Eine ganz zentrale Problemstellung des Kompromisses zeigt sich in der Demokratie. Kompromisse kann man hier nur erzielen, wenn sie nicht öffentlich verhandelt werden. Sie stehen also in einem gewissen Spannungsverhältnis mit der Transparenzerwartung von und in Demokratien.

Wie bewerten Sie die Koalitionsverhandlungen der aktuellen Regierung? Dabei spielten Kompromisse vermutlich auch eine wichtige Rolle.

Wenn man sich den Kompromiss als Prozess und nicht als Ergebnis ansieht, haben es die Koalitionsparteien strategisch geschickt gemacht. Sie haben sich alle schon vorher festgelegt. Damit haben sie im Vorfeld Einfluss auf die Koalitionsverhandlungen genommen.

Ist es eine Chance, dass nun mehr Akteur*innen an der Regierung beteiligt sind?

Ich halte es tendenziell für einen Vorteil. Mehrparteien-Koalitionen eröffnen auch Spielraum für mehr Innovation. Wir müssen uns dann aber auch darauf einstellen, dass solche Koalitionen häufiger wechseln, wie das in den Niederlanden oder in Italien bereits der Fall ist. In Skandinavien gibt es vielfach sogar Minderheitenregierungen, die auf die Kooperation – und damit Kompromisse – mit den Oppositionsparteien angewiesen sind. In der Bundesrepublik ist es lange so gewesen, dass die zwei großen Volksparteien in der Lage waren, innerparteilich eine große Integrationsleistung hinzubekommen. Im Moment haben wir es aber mit einer wachsenden gesellschaftlichen Diversität, mit mehr Dissens, auch mehr tiefgreifendem Konflikt zu tun: sowohl bei Interessen, als auch bei Wertpositionen.

Woran lässt sich das feststellen?

Das sieht man etwa daran, dass inzwischen alles ein „Recht“ ist. Früher forderte man oder gab seine Interessen oder Bedürfnisse an, heute sagt man: „Es ist mein Recht.“ Das heißt immer auch, dass es eigentlich unverhandelbar ist – und damit nicht Gegenstand von Kompromissen werden kann.

Haben Sie einen Tipp, wie ein Kompromiss gelingen kann?

Das hängt natürlich von der Ausgangssituation ab, in der man sich befindet. Wichtig ist es, der anderen Konfliktpartei zuzuhören und zu versuchen, den Sinn der Forderungen der anderen Seite nachzuvollziehen und als legitim anzuerkennen. Was wiederum nicht heißen muss, dass man diese auch akzeptiert. Damit hat man aber gute Voraussetzung für einen Kompromiss. Zentral ist auch die Erkenntnis, dass uns gar nichts anderes übrig bleibt, als uns zusammenzusetzen und zu überlegen, wie wir das gemeinsam hinbekommen. Auf die gesamte Gesellschaft betrachtet, ist das Ziel nicht, dass wir uns alle verstehen und Konsens erzielen, sondern dass wir nach Wegen suchen, wie wir trotz aller Verschiedenheit und Gegensätzlichkeit friedlich miteinander zusammenleben können.

Kulturen des Kompromisses

Der neue Forschungsverbund des interdisziplinären Forschungsteams der drei Universitäten Duisburg-Essen (UDE), Münster (WWU) und Bochum (RUB) – Kulturen des Kompromisses – startete im November 2021. Das Forschungsprojekt wird für drei Jahre gefördert, soll aber auch darüber hinaus neue Erkenntnisse über den Kompromiss in modernen Gesellschaften bringen.

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