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Die Gefahren der Alltagstheorie: Wie Vorurteile unsere Meinungsbildung beeinflussen

von Sebastian Jarzebski

Wenn wir morgens zur Zahnpasta greifen oder unseren bekannten Weg zur Arbeit nehmen, denken wir nicht nach. Denn die Kapazitäten unseres Gehirns sind begrenzt. Der menschliche Geist verlässt sich gerne auf Abkürzungen oder auf kleine Tricks, die ihm die Arbeit erleichtern. So wären wir im Alltag hoffnungslos überfordert, würde jeder Entscheidung ein bewusster Entscheidungsfindungsprozess vorangehen. Diese kognitiven „Short-Cuts“, die unser Handeln ermöglichen, sind als Heuristiken bekannt. Ohne sie wären wir aufgeschmissen.

Was aber passiert, wenn wir diese „Abkürzungen“ nicht nur bei vermeintlichen Nebensächlichkeiten nutzen, sondern auch, um uns eine Meinung über das politische Geschehen zu bilden? Und wie verzerren diese Abkürzungen unser Bild von der politischen Realität?

„Die Ökos“, „die Autofahrer“ – wir alle kennen diese Schubladen

Täglich prasseln zahlreiche Sinneseindrücke auf uns ein. Mithilfe von Heuristiken navigiert uns unser Unterbewusstsein durch diese kaum noch zu bewältigende Informationsflut. Aber aus Heuristiken können schnell Vorurteile werden, die unsere Sicht auf die Welt und unser Handeln negativ beeinflussen. Dabei sind Vorurteile auch nützlich. Damit wir Informationen effektiv verarbeiten können, müssen wir gemachte Erfahrungen verallgemeinern und anwenden. So werden wir vielleicht nach einem Hundebiss um die Vierbeiner künftig einen großen Bogen machen.

Vorurteile können aber auch ein destruktives Potenzial entfalten. Aus einem Raser werden „die Autofahrer“, aus einem missionarischen Veganer „die Ökos“, aus einer Frau mit Kaffee und Kinderwagen „die Latte-Macchiato-Mütter“. Wir alle kennen diese Schubladen, die tagtäglich auch medial reproduziert werden. Wie aber kommt es, dass wir aus unseren Erfahrungen verallgemeinerbare Theorien formen und diese relativ stabil in unseren Köpfen verankern? Ein Blick in die Neurowissenschaften und andere Humanwissenschaften zeigt uns, warum das so ist.

„Doping in meinem Lieblingssport? Das kann nicht sein!“

Psychologen haben eine klare Antwort: Unsere Identität ist das Problem. Sie ist geprägt von unseren Einstellungen, die sich zu großen Teilen aus unseren Erfahrungen und – ja, auch Vorurteilen zusammensetzen. Vorurteile sind also eine spezielle Form von Wissen, das wir fest mit unserer Identität verknüpfen. Dabei gehen wir dem sogenannten Konsistenzmotiv auf den Leim, das besagt: Unser Wissen muss widerspruchsfrei sein. Denn genau dadurch grenzt es sich vom Glauben, Meinen und Hoffen ab. Welchen Sinn hätte auch widersprüchliches Wissen?

Foto aus der Vogelperspektive von einen Containerhafen.
Schubladendenken macht es uns erst einmal einfacher, all die Eindrücke zu verarbeiten, die täglich auf uns einprasseln – kann aber auch destruktiv sein. © chuttersnap/Unsplash

Menschen haben ein großes Bedürfnis nach Konsistenz. Kognitive Dissonanzen, also für uns nicht auflösbare widersprüchliche Informationen, sind der größte Feind dieses geschlossenen Weltbilds. Neurowissenschaftler gehen davon aus, dass wir die Bedrohung der eigenen konsistenten Identität emotional ebenso stark wahrnehmen wie eine physische Gefahr. Dann verstärken sich unsere Vorurteile – vor allem, wenn wir verängstigt sind oder in Not geraten. In diesen Situationen wirken sie wie Heuristiken und lassen uns vorschnell urteilen.

Wer verängstigt ist oder sich in seiner Identität bedroht sieht, läuft Gefahr, sich auf seine Vorurteile zu verlassen und seine Meinung weniger zu reflektieren. Ein Gegencheck mit Fakten oder alternativen Deutungsangeboten? Fehlanzeige! So blenden wir Fakten aus oder erklären sie schlichtweg für falsch. Doping in meiner Sportart? Kann nicht sein! Mein Lieblingsschauspieler ein misogyner Prolet? Aber in seinem letzten Film hat er einen so einfühlsamen Charakter gespielt.

Den unbequemen Weg der Reflexion wählen

Dabei basieren unsere Erfahrungen in einer medial vermittelten Wirklichkeit häufig nicht mehr auf dem selbst Erlebten, sondern erreichen uns indirekt. Wir sehen eine Dokumentation, lesen einen Artikel oder lassen uns von unseren Freunden Neuigkeiten berichten. Daraus entstehen existenzielle Herausforderungen für die öffentliche Debatte. Zu beobachten beispielsweise in den vergifteten Diskursen über Zuwanderung, über den motorisierten Individualverkehr in Großstädten oder auch der #metoo-Debatte.

Hinzu kommt, dass wir uns gegen Argumente von außen, die imstande sind, unserer Identität und unserem Weltbild Kratzer zu verleihen, „impfen“. Die Sozialpsychologie bezeichnet das Phänomen als Inokulation. Wahrnehmen und für wahr nehmen sind deshalb gekoppelt. Nur das Wissen, das wir mit unserer eigenen Identität sinnvoll verknüpfen können, lassen wir als Wahrheiten zu.

Wie aber kommen wir aus dieser Vorurteilsfalle heraus, ohne an Meinungsstärke einzubüßen? Wir können den häufig unbequemen Umweg der Reflexion wählen und trügerische Abkürzungen links liegen lassen. Wenn wir uns den alltäglichen wie den gesellschaftlichen Herausforderungen frei und unvoreingenommen nähern, eröffnen sich neue Gedankenkorridore. Dafür müssen wir jedoch Widersprüche im eigenen Denken aushalten und bisweilen auch provozieren. Nur wenn wir uns und unsere Weltsicht teilweise infrage stellen, lernen wir, die Komplexität unserer Gegenwart anzuerkennen und an ihr zu wachsen.

Schon gewusst?

Ähnlich stark wie Vorurteile wirken Truismen. Gemeint sind damit nicht überprüfbare Wahrheiten, auch Binsenwahrheiten oder Allgemeinplätze genannt. Diese sozial geteilten Überzeugungen werden selten hinterfragt. 

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